
KATJA SÄMANN
Ex libris
Herkunft
Sasa Stanisics berührender Roman über den Verlust der Heimat.
12. Juni 2019, 02:00
Ex libris | 12 05 2019
Rezension von Irene Binal
Der 1978 in Bosnien-Herzegowina geborene Autor Sasa Stanisic denkt in seinem neuen Buch über die Frage der Herkunft nach. Es ist ein sehr persönliches Werk, ein Buch, das Stanisic nahe geht, denn während er schrieb und Erinnerungen sammelte, versank Großmutter Kristina in ihrer Demenz und verlor ihre Erinnerungen.
Gestern habe ich das vierte Buch beendet.
— Saša Stanišić (@sasa_s) January 9, 2019
Ich schrieb und recherchierte und dachte nach ziemlich genau zwei Jahre.
Das Buch heißt HERKUNFT.
Es hat 335 Seiten und 467.757 Zeichen.
Es ist ein Selbstporträt mit Ahnen. Und ein Scheitern des Selbstportraits.
"Herkunft" ist keine Autobiografie, eher die Chronik einer Spurensuche in Deutschland und Oskorusa und Visegrad, in der Gegenwart und in der Vergangenheit, ein Buch voller Geschichten.
Kulturkreis des Erzählens
Sasa Stanisic weiß zu erzählen. Von seiner Großtante, die Kosmonautin werden wollte und dafür sorgte, dass die Russen eine Ziege aus einem bosnischen Dorf in die Umlaufbahn des Mondes schossen. Von einem Offizier der Wehrmacht, der sich bei der Familie seiner Großmutter einquartierte und jeden Tag eine Schale Milch trank. Von seinem Urgroßvater, einem Flößer, den seine Urgroßmutter zu sich sang. Von seiner Kindheit im damaligen Jugoslawien, von Paraden und Pionieren:
"Ich komme aus einem Kulturkreis, in dem Geschichtenerzählen so etwas wie eine Charaktereigenschaft ist." Sasa Stanisic
Es ist ein beeindruckendes, ein berührendes Buch geworden, das die Geschichte eines Mannes erzählt, der eine Heimat verloren hat und sich in Deutschland eine neue schaffen musste.
Zart und wuchtig
Dieser Mann erlebte den Zerfall des jugoslawischen Vielvölkerstaates; erlebte, wie Herkunft plötzlich wieder wichtig wurde, wie seine Eltern - der Betriebswirt und die Politologin - sich nach ihrer Flucht in Deutschland am Bau und in einer Großwäscherei verdingen mussten. Seine Kindheit im bosnischen Visegrad kann er heute nur mehr dissonant erzählen, er ringt mit seiner Herkunftsfrage.
"Es erschien mir rückständig, geradezu destruktiv, über meine oder unsere Herkunft zu sprechen, in einer Zeit, in der Abstammung und Geburtsort wieder als Unterscheidungsmerkmale dienten."
All das ist zart und gleichzeitig wuchtig, poetisch und prosaisch, ernsthaft und humorvoll.
Eine Liebeserklärung
Sasa Stanisic erinnert sich an das Leben in Deutschland, in Heidelberg, an Schulfreunde und seine erste Liebe, an gegrillte Lämmer und seinen Kampf mit der deutschen Sprache.
"Es ist ein absoluter Gewinn, das ich Deutsch lernen musste." Sasa Stanisic
In seiner gewandten, wunderschönen Sprache spürt Sasa Stanisic der Vergangenheit und der Gegenwart nach, der Herkunft und der Heimat. In seinem Buch geht es um trügerische Erinnerungen, um Klischees und Vorurteile, um eine zerstreute Familie, die von Geschichten zusammengehalten wird. Der Autor erzählt von Drachen und Schlangen, von der Ausländerbehörde und einem Zahnarzt namens "Doktor Heimat". Und von seiner dementen und eigenwilligen Großmutter Kristina. Sein Roman ist eine Liebeserklärung an diese Großmutter, die das Erscheinen des Buches nicht mehr miterlebt hat.
"Herkunft sind die süß-bitteren Zufälle, die uns hierhin, dorthin getragen haben. Herkunft ist Zugehörigkeit, zu der man gar nichts beigesteuert hat."
Es ist ein Buch, das heraussticht, scharfsinnig, hintergründig. Witzig, nachdenklich und ganz und gar wunderbar ist; ein Buch, so vielfältig wie das Leben und so komplex wie die Frage nach der eigenen Herkunft.
Service
Sasa Stanisic, "Herkunft", Luchterhand Literaturverlag