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Ex libris
Monster
Der israelische Autor Yishai Sarid über Moral und Opferrollen.
17. Juni 2019, 16:00
Ex libris | 19 05 2019
Rezension von Carsten Hueck
Ob Ausstellungen oder Stolpersteine, Mahnmal oder Zeitzeugeninterview - der Umgang mit der NS-Zeit ist kein einfaches Unterfangen. Dabei stellt jene Periode der Geschichte die Täter, ihre Kinder und Kindeskinder vor ganz andere Herausforderungen als die Opfer und deren Nachfahren. Doch für die ist es ebenso wenig mit staatlichen Veranstaltungen und Klassenfahrten nach Auschwitz getan. Das zeigt auf eindrückliche Weise Yishai Sarids neues Buch "Monster".
KEIN & ABER
Yishai Sarids Roman "Monster" ist bei Kein & Aber erschienen
Spiel mit dem Grauen
Wir alle kennen ja Monster. In Filmen und Träumen dringen sie in unser Leben ein und bedrohen alles, was wir für normal halten. Es sind Ungeheuer, die den Himmel verdunkeln oder uns durch ihre abnorme Gestalt erschrecken - doch durchaus auch unterhalten. Sie faszinieren. Das Spiel mit dem Grauen macht Spaß, solange man es mit einem Knopfdruck beenden kann.
Das "Monster", das Yishai Sarid heraufbeschwört, wird man jedoch nicht los. Man kann es nicht abschalten oder auslöschen. Hat man es einmal angesehen, ergreift es Besitz von Gedanken und Gefühlen. Es ernährt sich von Wissen, Empathie und Fantasie und wächst, je länger wir uns mit ihm beschäftigen.
Erinnerungsarbeit
Diese Erfahrung macht Sarids namenloser Ich-Erzähler, ein junger israelischer Historiker. Keineswegs charismatisch, auch kein brillanter Akademiker. Sondern einer, der im diplomatischen Dienst eine ruhige Kugel schieben wollte, mit Mitte Zwanzig aber anstelle Internationaler Beziehungen Geschichte studiert und schließlich mangels Alternativen die Promotion im Fach Holocauststudien anstrebt. Er ist jung verheiratet, eben Vater geworden und von schnell vergebenen Stipendien auf diesem Feld zu seiner Wahl ermutigt worden.
"Ich kann in kurzer Zeit große Mengen an Material verdauen. Mich reizten vor allem die technischen Details der Vernichtung: der Verwaltungsapparat, das Personal, die Methode. Ich vertiefte mich mehr und mehr in die Materie, bis sich das Thema meiner Doktorarbeit abzeichnete und mein Doktorvater zustimmte. Ich hatte meine Laufbahn eingeschlagen."
Während der junge Doktorand diszipliniert Hunderte Bücher und Zeugnisse zu den Arbeitsmethoden in deutschen Vernichtungslagern durchackert, beginnt er aus finanziellen Gründen Schulklassen durch die israelische Gedenkstätte Yad Vashem zu führen. Aufgrund seiner Kompetenz übernimmt er bald auch erfolgreich Touren auf dem Gelände der ehemaligen Konzentrationslager Majdanek, Treblinka und Auschwitz. Er wird ein professioneller Erinnerungsarbeiter, begleitet Schüler, Soldaten und schließlich sogar Minister an die Stätten des Grauens.
Er ist begehrt und wird für seine Vorträge gerühmt. Doch je tiefer er sich seiner Arbeit hingibt, desto gestörter wird sein Verhältnis zum vorgegebenen Umgang mit der Erinnerung an den millionenfachen Mord.
Gedenktourismus
In seinem Bericht an den Direktor von Yad Vashem, der dem Roman seinen formalen Rahmen gibt, schildert er rückblickend seine Erfahrungen mit Jugendlichen, in deren "vom Handyflimmern erfülltes Denken" er einzudringen versucht, von ritualisierten Gedenkreflexen, von Gedenkkitsch, von touristischer Ignoranz, von der Instrumentalisierung der Geschichte durch staatliche Institutionen, die im Konzentrationslager eine riesige Show unter dem Motto: "Hoffnung einflößen statt Verzweiflung" inszenieren.
"Das Reden fiel mir nun zunehmend schwer. Zu viele Wörter. Beim Referieren hörte ich meine Stimme von außerhalb, wie jemand, der einer Tonaufnahme seiner selbst lauscht, und sie klang schrill. Ich hob kaum den Blick vom Blatt und sah ihnen nur selten in die Augen, schreckte immer mehr davor zurück. Sollen sie doch aus dem Erdboden, dem Wald, der Stille verstehen."
Je intensiver der Guide sich mit dem Monster Erinnerung einlässt, desto stärker vereinsamt er, desto weniger kann er sachlich und rational agieren. Er verliert zunehmend die Kontrolle über seine Arbeit und sich selbst, vernachlässigt sein Äußeres, seine Familie. Ihm schwindelt angesichts dessen, was er weiß und was er, gepackt von einer Art heiligem Entsetzen, ausdrücken will. Er hört die Stimmen der Ermordeten und stellt selbst immer mehr Fragen. Der Holocaust dringt in ihn ein, die Toten sind ihm zunehmend vertraut, die Lebenden werden ihm immer unheimlicher. Und dann kommt auch noch ein deutscher Filmemacher mit seiner Assistentin.
"Wann seid ihr hier gewesen?", fragte ich. "Vor einem halben Jahr", wiederholte sie die Antwort, die sie mir bereits gegeben hatte, "an all den Orten, wo du uns jetzt hingebracht hast." "Warum seid ihr dann noch einmal gekommen?" "Weil er einen wie dich suchte, der uns führt. Diese Tour wird schon Teil des Films." "Einen wie mich, du meinst einen Juden?", fragte ich, und sie antwortete auf Deutsch, mit ihren fleischigen Lippen: "Ja."
Yishai Sarid macht mit seinem kleinen, leisen Buch unmissverständlich klar: es gibt Verdrängung, aber kein Ende der Erinnerung. Es gibt Versuche, den Holocaust zu benutzen, ihn zu beschreiben, aber keine ausschließliche Erklärung dessen, was in den Lagern und anderswo geschah. Dieser Völkermord ist nicht zu fassen, es muss weiterhin um Sprache und Form gerungen werden, in der wir unterschiedliche Erinnerungen an ihn aufbewahren. Selbst wenn das unser gepflegtes Selbstverständnis als Mensch und Individuum gefährdet.
Service
Yishai Sarid, "Monster", Kein & Aber Verlag
Yad Vashem