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Digitale Lehren aus der Pandemie
Dass COVID-19 einen globalen einschneidenden Moment erzeugt hat, steht außer Frage. Besonders für die oft beschworene „Digitale Gesellschaft“ schien die Pandemie für viele wie ein Brandbeschleuniger.
13. Juli 2020, 02:00
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matrix | 12 06 2020 | 19:05 Uhr
Online-Shopping statt Einkaufszentren, Social Media statt Strandbar, sowie home office und home schooling gehörten auf einmal zum Alltag. Die gesellschaftlichen Muster im Umgang mit dieser Ausnahmesituation waren allerdings alles andere als neu, so der Soziologe Armin Nassehi im Gespräch mit „Matrix“. Gelehrt hat sie uns allerdings bereits jetzt einiges.
Es ist wahrscheinlich die erste Pandemie/Epidemie, bei der die Bevölkerung an der digitalen Beobachtung in Echtzeit teilnimmt. Fürs heutige Matrix hab ich mit @ArminNassehi gesprochen, was wir über uns als -und in der - Gesellschaft lernen können. https://t.co/fgKY6LoRtJ
— Sarah Kriesche (@SarahKriesche) June 12, 2020
Vermessung einer Pandemie
Von „Corona-Apps“, die weltweit aus dem Boden geschossen sind, über Visualisierungen zur Verbreitung des Virus, bis hin zu Zukunftsprognosen; vor allem Daten sollten die Pandemie messbar und, so die Vision, kontrollierbar machen.
Durch die digitalen Beobachtungsformen handelt es sich wahrscheinlich auch um die erste Pandemie oder Epidemie die wir erleben, an der die gesamte Bevölkerung in Echtzeit teilnimmt. Das könne auch einen Lernprozess auslösen, so der Soziologe Armin Nassehi.
„Man könnte es als eine Art öffentlichen Grundkurs bezeichnen, wie Wissenschaft eigentlich funktioniert, etwa, dass eine Korrelation noch keine Kausalität ist, dass eine Kurve die in einem logarithmischen System dargestellt wird anders aussieht als in einem anderen System, oder dass Daten womöglich nicht die Wirklichkeit selbst sind, sondern eigentlich nur für sich selber stehen. Wir erleben und lernen, dass Wissenschaft nur die Fragen beantworten kann, die sie aus theoretischen und methodischen Gründen auch stellen kann. Ich bin ein Berufsoptimist und ich würde sagen das sind optimistische Zukunftsprognosen zumindest im Hinblick darauf, dass es Lernprozesse auslösen kann.“
Das, durch COVID-19 geschaffene Momentum, in dem die Straßen mitunter menschenleer, Restaurants und Geschäfte geschlossen und das Leben auf die eigenen vier Wände reduziert worden war, hat auch geholfen, mehr über uns selbst als Gesellschaft zu lernen. Vieles, was vor der Krise kritisiert wurde, wie die beschleunigte Welt, der diversifizierte Alltag, die Fülle an Terminen, wurde plötzlich vermisst. Allem voran könne man hier lernen, welchen hohen Stellenwert außerfamiliäre Kontakte und die „Ansprache von Außen“ tatsächlich einnehmen.
Die Bedeutsamkeit des Unbedeutenden
So unbedeutend, mitunter vielleicht sogar lästig, Begegnungen im Alltag für viele gewesen sein mögen, insbesondere der Lockdown zeigte auf, welchen hohen Stellenwert vermeintlich unbedeutende Begegnungen mit Mitmenschen einnehmen.
Die Reduktion auf sich selbst, oder die eigene Familie habe das sichtbar gemacht. „Etwa Menschen, die uns nur eine Fahrkarte oder eine Brezel verkaufen, oder denen wir im Straßenverkehr ausweichen, die für uns nichts bedeuten. Wir erkennen, wie bedeutsam das für uns ist, weil wir jetzt (anm. im Lockdown) ausschließlich mit Leuten zusammen sind, die für uns bedeutsam sind. Das ist eine Durchbrechung eines Musters, was unglaublich schwierig ist. Wir wissen ziemlich genau, dass wenn Menschen Konflikte haben, sich diese Konflikte natürlich verstärken. Man muss sich nur vorstellen, mit einem Partner in einem Lockdown zu sein, mit dem man Stress hat. Und wir wissen, dass Depressive depressiver werden und wir wissen natürlich, dass sich das auf Muster sozialer Ungleichheit auswirkt: Wenn man 150 m² zu zweit hat, kann man sich leichter aus dem Weg gehen, als wenn man 50 m² zu viert, oder zu fünft hat. Und das ist sozusagen etwas wo man sagen muss: Wir werden durch so eine Ausnahmesituation auf die Erwartbarkeiten, also die Muster einer Gesellschaft, ziemlich deutlich hingewiesen. Das finde ich an der Krise eigentlich aus soziologischer Perspektive mit am interessantesten“, sagt der Soziologe Armin Nassehi.
Gewinnerin der Krise: Die Digitalisierung
Als große Gewinnerin geht die Digitalisierung aus der Krise hervor. Allem voran das bargeldlose Bezahlen mittels Smartphone oder entsprechender Karte, „was für mich ein Hinweis ist, dass meine These nicht ganz falsch sein kann, dass sich die Techniken erst dann durchsetzen, wenn sie sozusagen eine Art ökologische Umwelt haben, in der sie sich bewähren können. Also in der sie im Alltag für die Leute einen Vorteil darstellen.“, so Nassehi.
„Viele Familien entdecken jetzt, dass man sich über WhatsApp oder Zoom oder Skype tatsächlich begegnen kann. Das hätten die vorher niemals verwendet. Universitäten entdecken, dass manches in der Lehre nicht nur durch Digitales ersetzt werden kann, sondern womöglich auch den einen oder anderen Vorteil hat. Also sobald die Dinge praktikabel werden, setzen sie sich auch durch und wenn man böse wäre, würde man sagen, womöglich ist die Corona - Krise eine von der Digital-Industrie in die Welt gesetzte, weil das natürlich der Bereich ist, der durch diese Form am stärksten wächst.“
Dank Digitalisierung zum globalen Erlebnis
Dass wir die Krise als globale Krise verstehen, ist zu einem großen Teil ebenfalls der Digitalisierung geschuldet. Nicht zuletzt durch soziale Medien ist es möglich, Entwicklungen in Echt-Zeit mitzuerleben. Dennoch scheint die räumliche Differenz eine Rolle zu spielen, so Nassehi: „Als sich das Ganze sich nur in China abgespielt hat, schien es weit weg. Und all die Akteure, die jetzt Entscheidungen treffen müssen hatten mehr oder weniger gesagt: das ist so eine chinesische Sache, das wird hier nicht ankommen, oder das wird für uns keine große Rolle spielen, oder ähnliches. Und dann hat man festgestellt, dass wir auf der einen Seite natürlich in einer so globalen Welt leben, in der wir uns gegenseitig beobachten, andererseits diese Form der Betroffenheit doch auch etwas mit räumlicher Nähe zu tun hat. Am schlimmsten tobt die ganze Sache zurzeit in Südamerika. Das spielt bei uns nur eine ganz geringe Rolle in der Selbstwahrnehmung. Wir behaupten in Mitteleuropa, die Sache ist so einigermaßen durch, woran ich übrigens nicht glaube, aber das ist so eine Frage der Selbstwahrnehmung. Also was wir lernen ist, dass wir einerseits auf globaler Augenhöhe miteinander sind, aber dass es andererseits Differenzen in der Beobachtbarkeit der Geschichten gibt.“
In der gesellschaftlichen Bewertung der Krise und dem Umgang, finden sich für den Soziologen auch einige bekannte Muster wieder. Etwa nationale oder nationalistische Zuschreibungen. Nassehi: „Etwa, dass natürlich die Italiener, wie wir die Italiener kennen, alles falsch gemacht haben, und natürlich die nördlichen europäischen Länder alles richtig gemacht haben, wenn wir Schweden mit ethisch zum Teil sehr merkwürdigen Vorgaben, wie, ältere Menschen nicht zu behandeln, vielleicht mal ausklammern, dann wird man feststellen, dass wir uns in vergleichsweise eingeführten, erwartbaren Mustern in der Selbstbeobachtung dieser Geschichten bewegen.“
Erwartbare Verschwörungstheorien
Technologie, beziehungsweise ihre Vertreter stehen allerdings auch im Zentrum von so manch abstruser Verschwörungstheorie. Insbesondere auf sozialen Medien schien es mitunter keine Möglichkeit zu geben nicht mit der einen oder anderen Absurdität konfrontiert zu werden.
Von haltlosen, selbstgebastelten Grafiken, die beweisen sollten, dass 5G-Sendemasten helfen würden, das Virus zu verbreiten, bis hin zum US-Unternehmer und Gründer von „Microsoft“, Bill Gates, der - so die Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker - als heimlicher Chef der WHO das Virus in die Welt gesetzt habe, um schlussendlich die Menschheit zu unterjochen. Mitunter schien keine Absurdität absurd genug, um nicht verbreitet zu werden. Neues oder gar Kreatives kann Nassehi, dessen Buch „Das große Nein: Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protests“ im Februar erschienen ist, nicht erkennen.
"All diesen Protesten liegt eine alte Idee zugrunde."
„Also dieser Art Protest, vor allem in Bezug auf Bill Gates, liegt ja diese alte Idee zugrunde, dass es so etwas wie eine Geheimregierung der Welt, mit relativ kleinen Kreisen gibt, die alles steuern. Das ist ein klassisches, übrigens sehr stark antisemitisch imprägniertes, Motiv, tatsächlich zu glauben, dass es Leute gibt, die das Gesamte steuern können. Dahinter steckt natürlich ein sehr autoritäres Weltbild, dass man sich überhaupt vorstellen kann, dass es sowas geben könnte. Dahinter steckt aber auch die Idee, dass es eine Differenz zwischen Herrschenden, die eigentlich nicht zu uns gehören, und dem eigentlichen Volk gibt. Populismus, Jan Werner Müller hat das ganz schön auf den Begriff gebracht: Populismus bedeutet ja nicht, dass jemand einfache Sätze sagt, sondern Populismus heißt, zu unterscheiden zwischen den bösen Eliten und dem eigentlichen Volk, wie es wirklich ist, also ‚uns‘. Und das ist das eigentliche Motiv, das Sie in all diesen Geschichten wiederfinden. Von rechts wäre das dann tatsächlich, es sind die Weltregierer, Bilderberg, Gates, gerne Soros dabei, weil man das antisemitische da natürlich nochmal auf eine ganz besondere Art und Weise formulieren kann. Natürlich hängt die WHO mit drin, weil man über die Gesundheitsgeschichte den ganzen biopopulistischen Populismus dann auch noch mitliefern kann. Dass das Impfen natürlich eine tolle Rolle spielt, weil das ‚das Eindringen in den Volkskörper‘ ist. Wir kennen diese Diskurse zum Teil aus dem Nationalsozialismus, hier finden sich hoch interessante semantische Verbindungen. Man kann sagen, eigentlich kein besonders kreativer Protest, weil den hätte man in dieser Weise auch vorhersehen können. Man muss, ein bisschen zur Selbstberuhigung aber auch sagen: dieser Protest ist eine relativ kleine Erscheinung. Aber im digitalen Zeitalter, erfährt er mitunter eine hohe Form von Aufmerksamkeit. Wenn wir jeden Tag über diesen Protest berichten, dann wird er natürlich nochmal attraktiver, obwohl er unfassbar langweilig ist. Also als Publikum würde ich mir fast wünschen, dass sich die Populisten auch mal was neues Ausdenken.“
Erwartbare Muster
Gesellschaftliche Proteste, die quasi Hand in Hand mit den Lockerungsmaßnahmen einhergehen zeigen, wie auch der Zusammenhalt beim Ausbruch der Krise, wie stabil und zuverlässig gesellschaftliche Muster letztendlich sind. Nassehi: „Man konnte gut erkennen, in welchen Situationen so etwas wie Solidarität, Gemeinschaftlichkeit, gegenseitige Hilfe, Mutualität entsteht, was in so einer Situation sehr erwartbar war; aber auch, wann wieder die individuellen Interessen durchschlagen. Nämlich dann, wenn man sich unterschiedlich verhalten kann. Das ist ein ganz stabiles Muster, das wir in Gesellschaften kennen. Es wird gesagt, dass die Frauen womöglich die Verliererinnen in dieser Krise sind, sie werden gewissermaßen auf bestimmte Muster von Geschlechterverhalten zurückgedrängt. Ob das in dieser Drastik so stimmt, darüber muss man dann nach der Krise nachdenken, aber in der Tendenz stimmt das ganz sicher und dann stellt man fest: Solche Muster sind in der Gesellschaft offenbar viel stabiler als wir denken.“
Wie stabil diese Muster sind, zeigt sich auch im andauernden Diskurs rund die Lockerungen. Fast wie aus einem soziologischen Lehrbuch tritt erwartbares Verhalten an den Tag. Nassehi: „Wir sehen Politiker, die den Lockdown jetzt runterfahren und wir fragen uns ganz nach den Mustern, die wir im Kopf haben, zwei Dinge. Erstens, ist das die richtige Maßnahme, zweitens: was will der politisch damit erreichen? Also in Deutschland ist es ja zur Zeit so, dass die Ministerpräsidenten der Bundesländer bisweilen eine Art von Wettlauf machen, wer den Lockdown am klügsten und vor allem auch am schnellsten wieder los wird. Und natürlich stecken dahinter politische Kalküle, das ist ja gar keine Frage, aber wir beobachten es genau nach diesem Muster. Und wenn ein Wirtschaftsverband sagt ‚wir müssen unbedingt dies und das wieder aufmachen‘, dann haben die ja vielleicht sogar Recht, weil Arbeitsplätze verloren gehen, Lebenschancen verloren gehen, Unternehmen verschwinden und so weiter, aber sie haben natürlich auch ökonomische Interessen. Selbstverständlich. Wir haben so ein Selbstbild, alles ist disruptiv und ändert sich permanent, interessanterweise ändert sich vergleichsweise wenig, weil wir nach sehr genauen Erwartbarkeiten reagieren, das kann man jetzt in der Krise tatsächlich auch sehen.
„Neues Normal“ versus „altes Normal“
Dass sich die gesamte Gesellschaft aufgrund der Pandemie-Erfahrungen verändert, glaubt Nassehi nicht. „Also, dass wir jetzt auf einmal geläutert sind und sagen ‚wir werden jetzt natürlich den Klimawandel bewältigen, wir werden ein viel bewussteres Leben führen‘ - das sagen Leute immer in solchen Krisensituationen und sobald die Krisensituation vorbei ist, läuft wieder alles nach den Mustern, die wir kennen. Es wird also keine Anti-Konsumgesellschaft sein, keine Antikapitalistische Gesellschaft und wir werden auch wieder da und dort hinfliegen. Aber wir erleben vielleicht, dass sich die eine oder andere Reise auch durch eine angemessene Videokonferenz vermeiden lässt und dass wir vielleicht bei Präsenzveranstaltungen in Schulen oder Hochschulen feststellen, das ist nicht nur ein Ersatz, sondern hat vielleicht sogar noch eine andere Qualität. Also man sieht, wenn man als Soziologe jetzt zu starken Sätzen neigen würde und sagen würde, das ist ein kairologisches Ereignis der Weltgeschichte, danach wird alles anderes sein, das kann ich mir nicht vorstellen.“
Es wird sich erst zeigen, wie und inwieweit COVID-19 als kollektive gesellschaftliche Erfahrung in Erinnerung bleiben wird. „1968 gab es in eine Grippe-Epidemie, die auf die sogenannte Hong Kong-Grippe zurückging und bei der auf der Welt um die 1-1,2 Millionen Menschen zu Tode gekommen sind. Man könnte sagen, im Vergleich zu dem, was wir bis jetzt gesehen haben, eine viel schlimmere Situation, zumindest, was die Opferzahlen angeht. Das ist im kollektiven Gedächtnis so gut wie nicht hängen geblieben. Bei 1968 denken wir an was anderes. Ich habe in einer Art von Privat-Empirie einige Leute befragt, die in der Zeit durchaus bewusst gelebt haben, für sie spielt das keine Rolle. Was ich schon sehr interessant finde, denn wenn man sich die Pandemiepläne von damals ansieht, war man durchaus ähnlich alarmiert wie jetzt. Lockdown gab es zwar keinen, aber man hat einige Schulen geschlossen oder ganze Orte abgeriegelt. Im kollektiven Gedächtnis ist sie aber nicht hängen geblieben. Vielleicht wird das jetzt in der digitalen Welt, wo alles protokolliert wird, ein bisschen anders ein, aber prinzipiell anders wahrscheinlich nicht.“