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Literatur

Colum McCanns Nahostdrama "Apeirogon"

Der Nahostkonflikt wurde bereits in zahlreichen Romanen verhandelt. Jetzt hat sich der Schriftsteller Colum McCann dem brisanten Thema auf höchst ungewöhnliche Weise genähert, denn er verschmilzt Realität und Fiktion, eine palästinensische und eine israelische Position. Seine beiden Hauptdarsteller sind real und begleiten McCann auch auf seiner Lesereise. Was sie verbindet ist ein traumatisches Ereignis.

Morgenjournal | 20 07 2020

Wolfgang Popp

2015 lernte Colum McCann auf einer Reise nach Israel und Palästina den Israeli Rami Elhanan und den Palästinenser Bassam Aramin. Beide hatten sie im Nahostkonflikt ihre Töchter verloren und waren seit Jahren gemeinsam unterwegs, um ihre Geschichten zu erzählen.

"Es geht um die Gefühle dahinter"

Colum McCann: "Ich war völlig durcheinander. Dazu kam, dass ich nichts über den Nahostkonflikt wusste. Ich hatte mich zwar intensiv mit dem Friedensprozess in Nordirland auseinandergesetzt, dieser Konflikt verwirrte mich aber von Grund auf. Ich wollte diese Verwirrung aber akzeptieren, und deshalb geht es in meinem Buch nicht um eine chronologische Aufzählung der Tatsachen, sondern um die Gefühle dahinter."

Auf 600 Seiten kreiert Colum McCann eine Welt, in der man neue Einsichten gewinnen kann. "Apeirogon" ist bei Rowohlt erschienen.

Doch ist Colum McCanns Roman "Apeirogon" weit entfernt von jeder Betroffenheitsprosa. Stattdessen schöpft das Buch seine Kraft aus der Genauigkeit der Beobachtung und dem Wechsel der Erzählperspektiven. "Die Geschichte bricht in die unterschiedlichsten Richtungen auf, kehrt aber immer wieder zu den beiden Mädchen zurück: Zu Smadar, die mit 13 einem Selbstmordattentat zum Opfer fiel und Abir, die mit zehn Jahren von einem Gummigeschoß getötet wurde, das sie am Hinterkopf traf", erzählt der Autor.

Wie im Internetzeitalter Romane schreiben?

Colum McCann hat seinen Roman in 1001 meist kurze Kapitel gegliedert, in Anspielung auf die Märchensammlung 1001 Nacht. In diesen Abschnitten erzählt er nicht nur vom Tod der beiden Mädchen, sondern denkt auch anhand des Zugs der Vögel über Grenzen nach, oder deckt Ursprünge auf - etwa wenn er vom Bombenbau der Attentäter bis zur Erfindung des Schwarzpulvers zurückgeht. Diese unterschiedlichen Themen folgen hart aufeinander.

"Mit meinen Studenten habe ich viel über die Frage diskutiert, wie man im Internetzeitalter Romane schreiben soll, weil ja unser Denken heute, mit den verrückten Sprüngen, die es die ganze Zeit über macht, ganz anders funktioniert."

"Wir können uns nicht verstehen, solange wir nicht unsere Geschichten erzählen." Colum McCann

McCann setzt seine Schnitte aber nicht nur schnell, sondern auch überaus genau, denn er stellt Ereignisse und Phänomene nebeneinander, die man noch nicht zusammengedacht hat. Diese Aha-Erlebnisse werfen aus immer neuen Richtungen Schlaglichter auf die beiden Tragödien, die im Zentrum des Buches stehen. Wir hätten jeden Grund, uns abgrundtief zu hassen, sagen die Väter der beiden toten Mädchen, Rami Elhanan und Bassam Aramin. Stattdessen ziehen die beiden seit Jahren gemeinsam durch die Welt und erzählen Seite an Seite ihre Geschichte.

Ergreifender Tatsachenroman

"Wir können uns nicht verstehen, solange wir nicht unsere Geschichten erzählen", sagt Colum McCann und ergänzt: "Wie Bassam sagt: Wenn wir uns nicht kennenlernen, solange wir auf Erden sind, werden wir uns erst unter der Erde nahekommen."

Ergreifender Tatsachenroman und kluger Essay, Page-Turner und Ideenpool. Mit "Apeirogon" schafft Colum McCann auf 600 Seiten eine Welt, in der man sich verlieren und neue Einsichten gewinnen kann. Heißt: Dringende Leseempfehlung!

Service

Colum McCann, "Apeirogon", Roman, übersetzt von Volker Oldenburg, Rowohlt

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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