Aktenvernichter

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Salzburger Nachtstudio

Hier spricht die Gedankenpolizei!

Es ist paradox. Noch nie konnten Menschen in demokratischen Ländern ihre Meinung so breit, so öffentlichkeitswirksam äußern und in die digitale Welt posaunen. Unterdessen lässt sich in momentan ein auf den ersten Blick widersprüchlicher Trend beobachten.

"Wir leben zwar nicht in einem neuen Zeitalter der Zensur, so wie wir sie bis jetzt verstanden haben - also der öffentlichen, der Staatszensur. Aber wir leben vermutlich in einem neuen Zeitalter der Selbstzensur", analysiert Franz Schellhorn, Direktor der wirtschaftsliberalen Denkfabrik Agenda Austria. Angeheizt werde diese Entwicklung durch die Blasenkommunikation in den sogenannten sozialen Medien.

Dort finden zugespitzte Meinungen, verkürzte Aussagen und radikale Standpunkte mehr Gehör - je polarisierender ein Posting, desto mehr Klicks und Kommentare bekommt es. Das führt wiederum dazu, dass es vom Algorithmus prominenter rangiert wird, weiß Christina Aumayr-Hajek, Kommunikationsberaterin und Leiterin der Wiener PR-Agentur Freistil. Dadurch entstünde der Eindruck, es gebe nur mehr extreme Ansichten in die eine oder die andere Richtung. "Ich erinnere mich da auch an die Flüchtlingskrise 2015. Da war man entweder am Westbahnhof mit Stofftieren und Süßigkeiten unterwegs und 'Refugees Welcome' - oder man war nicht dafür, hatte möglicherweise Ängste, Ressentiments, was auch immer. Und dann gab es auch noch diese große schweigende Mitte."

Die große schweigende Mitte

Corona, Klimawandel, Flüchtlinge, "Cancel Culture", "Black Lives Matter" bis hin zur Geschlechtergerechtigkeit - diese Entwicklung zeigt sich bei sämtlichen gesellschaftspolitischen Fragestellungen unserer Zeit. "Vor allem auf Twitter gibt es viele potenzielle Scharfrichter, die jeden abkanzeln, der eine andere Meinung vertritt. Und das Ganze wird jetzt noch durch die Twitter-Bestimmungen verstärkt", erklärt Schellhorn. Die Onlineplattform hat kürzlich in Österreich eine neue Funktion eingeführt, mit welcher sich eingrenzen lässt, wer aller auf einen Tweet antworten kann - ist eine Person nicht markiert, darf sie sich nicht an der Diskussion beteiligen. Man wolle mit dem neuen Angebot verbalen Attacken und Belästigungen vorgreifen, heißt es seitens Twitter.

In Österreich wurde kürzlich auch ein neues Gesetz gegen Hass im Netz ausgearbeitet. Beschimpfungen bis hin zu Morddrohungen - im Internet springen sich Menschen wegen kleinster Differenzen an die Gurgel. Haben wir tatsächlich derart verlernt miteinander zu diskutieren? Brauchen wir nun stets Aufpasser sowie Schiedsrichter zur Seite gestellt, um überhaupt einen gesitteten Dialog führen zu können? Akzeptanz und Respekt gegenüber anderen Meinungen sind zentrales Herzstück einer jeden Demokratie.

In dieser polarisierten Atmosphäre gehen gemäßigte Stimmen zusehends verloren - sie zensieren sich selbst. Zu groß ist die Angst den Stempel "Klimaleugner", "Corona-Verschwörungstheoretiker" oder "Rassist" verpasst zu bekommen.

Stempel "Klimaleugner", "Corona-Verschwörungstheoretiker"

"Das ist ja auch ein Ausdruck für Angst vor dem Argument", meint Norbert Bolz, Kommunikationstheoretiker und emeritierter Medienwissenschaftler an der TU Berlin. "Im Grunde haben Argumente in der Politik und in den sozialen Diskussionen heute überhaupt keine Chance mehr. Alles ist emotionalisiert, alles ist personalisiert und alles ist moralisiert. Und das sind die drei Instanzen, die dem Diskurs den Garaus machen.“ Gut zu beobachten sei dies etwa beim Thema Klimawandel und der Debatte um die Aktivistin Greta Thunberg, so Bolz.

Werden abweichende Meinungen mit sozialer Isolation bestraft, schrecken die allermeisten vor einer Verbalisierung zurück. Dieses Verhalten ist nicht neu.

In den 1970er Jahren beobachtet die deutsche Kommunikationswissenschafterin Elisabeth Noelle-Neumann während zweier Bundestagswahlkämpfe folgendes soziales Phänomen: Die Menschen machen ihre öffentlichen Äußerungen vom vermuteten Meinungsklima abhängig. Gilt eine Ansicht als gesellschaftlich unerwünscht, wird sie eher zurückgehalten. Welcher Standpunkt gerade als en vogue wahrgenommen wird, hänge stark mit der medialen Berichterstattung zusammen, so Noelle-Neumann. Die öffentlich transportierte Einstellung muss dabei nicht mit der tatsächlichen Meinung der Bürgerinnen und Bürger übereinstimmen. Wenn sich plötzlich die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr traut ihre Gedanken zu äußern, entsteht ein verzerrtes Abbild des Meinungsklimas. Auf den ersten Blick scheinen sich zwar alle einig zu sein, unter der Oberfläche brodeln aber diverse Ansichten, Spekulationen, Frustrationen. Je größer die Selbstzensur, desto verfälschter der öffentliche Diskurs. Noelle Neumann bezeichnet dies als: Schweigespirale.

Die Spannung entlädt sich dann in der Wahlkabine. Agenda-Austria-Direktor Schellhorn erinnert sich an ein Beispiel aus jüngerer Vergangenheit. "Man denke nur an die große Debatte rund um FPÖ-Wähler früher. Man hat ja kaum freiheitliche Wähler gekannt - die haben immer geschwiegen, kaum jemand hat sich öffentlich dazu bekannt. Und dann hat man sich nach der Wahl immer gefragt: wo kommen die plötzlich alle her?"

Abgerechnet wird in der Wahlkabine

Durch das Internet drehe sich die Schweigespirale nun noch rasanter weiter, sagt Christine Bauer-Jelinek, Psychotherapeutin, Wirtschaftscoach und Autorin zahlreicher Bücher rund um die Macht.

In ihrer Zeit als junge Erwachsene sei keine Rede von dem heute allgegenwärtigen digitalen Pranger gewesen. Von Ende der 1960er bis in die 80er Jahre habe eine allgemeine Aufbruchsstimmung geherrscht. "In der Kunst, in der Philosophie, in der Pädagogik, in der Psychologie. Und dieser Aufbruch war auch möglich, weil es nahezu Vollbeschäftigung gab. Wir mussten nicht um unsere Jobs zittern, wir mussten nicht fürchten nach dem Studium keine Anstellung zu bekommen. Wir hatten alle Jobs und wenn uns der eine nicht gefallen hat, dann haben wir uns halt einen besseren gesucht. Jetzt hängt diese Schweigespirale schon auch damit zusammen, dass man seine Existenz sichern muss."

Christine Bauer-Jelinek weiß wovon sie spricht. 2012 erschien ihr Buch "Der falsche Feind - Schuld sind nicht die Männer". Darin kritisiert sie die Opferrolle der Frauen. "Von einem linken Standpunkt aus. Man hätte es halt lesen müssen, dann hätte man das auch merken können. Aber in dem Moment, wo ich diese Meinung - die Frauen sind Opfer - nicht geteilt, argumentiert, hinterfragt, zur Diskussion gestellt habe, habe ich sofort nachher drei Aufträge von Frauennetzwerken verloren. Und es lief eine Kampagne gegen mich als Person und Beraterin - mit der Meinung ich wäre jetzt bei der FPÖ. Dieses Gerücht hält sich zum Teil immer noch, ich höre das bis heute von verschiedenen Stellen."

Dabei war Christine Bauer-Jelinek in den 70er Jahren in der sozialdemokratischen Frauenbewegung aktiv - Seite an Seite mit feministischen Vorkämpferinnen wie Johanna Dohnal. Eine Meinung muss man sich erst einmal leisten können. "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral", schrieb einst Bertolt Brecht.

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral

Rassismus, Antisemitismus, Gehaltsunterschiede - alles brandaktuelle Themen unserer Zeit, findet auch der Kommunikationstheoretiker Bolz. Der umtriebige Twitterianer äußert sich gerne zu heiklen gesellschaftspolitischen Fragestellungen.

Doch anstatt in diesen Bereichen nötige Reformen anzugehen, wird die Aufmerksamkeit allzu oft auf Scheindebatten umgelenkt, so Bolz. Und die Unternehmen tanzten freudig mit. Lego stoppte aufgrund der "Black Lives Matter"-Proteste etwa Werbung für seine Polizei-Spielzeugfiguren. Supermarktkassiererinnen und Pflegekräfte wurden öffentlichkeitswirksam als Heldinnen des Alltags gefeiert - auf ihrem Lohnzettel hat sich das bis heute nicht niedergeschlagen. Politische Neuerungen brauchen Zeit, kosten Geld, sind oft schwierig zu kommunizieren und die Früchte können meist erst in einer der nächsten Legislaturperioden geerntet werden. "Konkrete Hilfe würde ganz anders aussehen. Eine Krankenschwester wäre besser bedient, wenn man ihr Gehalt aufbessert, als wenn man jeden Abend um 19 Uhr klatscht. Also das sind tatsächlich reine Ostentationen der scheinbaren Gutwilligkeit, oder des Gutseins. Und im Grunde feiert sich der Gutmensch mit solchen Aktionen nur selbst."

Text: Daphne Hruby