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Diagonal
Stadtporträt Beirut
Die verheerende Explosion im Hafen von Beirut hat einmal mehr die fatale Verflechtung von Politik und Korruptionswirtschaft offengelegt. Sie hat den Libanon an den Rand des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruchs gebracht.
9. Jänner 2021, 02:00
Diese Beirut Sendung ist nach 2006 und 2017 bereits das dritte Diagonal über die libanesische Hauptstadt. Vor drei Jahren haben Johann Kneihs und Peter Waldenberger für ihr Stadtporträt den 30 - jährigen Ibrahim Nehme, Herausgeber des multidisziplinären, zukunftsorientierten Print-Magazins „The Outpost“ getroffen, das es mittlerweile nicht mehr gibt. „The Outpost“ wollte ein Magazin sein, das nach seiner Selbstbeschreibung Möglichkeiten in der arabischen Welt aufzeigen und einen soziokulturellen Wandel anstoßen würde; Möglichkeiten für positive Veränderungen sollten erforscht und erschlossen werden. Das Magazin war in Beirut, Libanon herausgegeben und weltweit distribuiert worden.
Nach der Beiruter Hafen-Explosion im August 2020 nahm Diagonal wieder Kontakt zu Ibrahim Nehme auf und bekam die Nachricht, dass er bei der verheerenden Katastrophe schwer verwundet wurde. Für das aktuelle Diagonal über Beirut schrieb Ibrahim Nehme einen berührenden Text, den er selbst eingelesen hat.
Erinnerungen an den 4. August 2020 in Beirut
von Ibrahim Nehme
Ich befinde mich in der Gemmayzeh Street, Im Nordosten von Beirut, angrenzend an das Stadtzentrum und direkt am Hafen. Hier kam es am 4. August zu dieser verheerenden Explosion, die sich über die Stadt ausbreitete und große Teile Beiruts verwüstete. Gemmayzeh ist eine jener Straßen, die aufgrund ihrer unmittelbaren Nähe zum Hafen schwer in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Die Gemmayzeh Straße ist berühmt für ihre schöne Architektur aus osmanischer Zeit und die Wasserstellen, die sich an jeder Ecke befinden. Die Straße, in der einst das ganze Leben pulsierte, wurde also Schauplatz dieser unvorstellbaren Katastrophe, nachdem die größte nicht-nukleare Bombe, die die Welt je gesehen hat, im Herzen Beiruts explodiere. An diesem Tag verloren die Menschen ihr Zuhause, ihre Gliedmaßen, ihre Lieben, ihre wertvollen Besitztümer, ihre Lieblingsplätze, ihre Hoffnungen und Träume...
Ich stehe nun mitten auf der Straße und versuche, mich zu orientieren. Nach der Explosion war ich noch nicht hier. Ich habe mich von den schweren Verletzungen erholt, die ich selbst an diesem Tag erlitten habe. Ich verbringe seither die meiste Zeit im Bett. Ich hatte in den sozialen Medien Bilder vom Ausmaß der Katastrophe gesehen: beängstigend, unvorstellbar, unwirklich. Ich hatte auch im Fernsehen gesehen, wie junge Menschen in den Tagen nach der Explosion in Scharen auf die Straße gingen, um das zu tun, was die Regierung hätte tun sollen; was die Regierung so kläglich versäumt hatte: ihren eigenen Schlamassel aufzuräumen, alles zu reparieren, was ruiniert worden ist, ihre Bürger zu unterstützen, ihnen zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen.
Rund 3.000 Tonnen des hoch explosiven Düngemittels Ammonium Nitrat haben mitten im Zentrum der Hauptstadt eine Detonation von der Wucht eines mittleren Erdbebens ausgelöst. Die Folgen: 200 Tote und mehr als 6.500 Verletzte. Ganze Stadtbezirke wurden in Schutt und Asche gelegt.

APA/AFP/STR
Die Beiruter Bevölkerung wartet bis heute auf Hilfe für den Wiederaufbau ihrer Häuser, Geschäfte und Wohnungen. Das politische Versprechen von Entschädigungszahlungen wurde bis heute nicht eingelöst. Das Versagen jedweder staatlicher Unterstützung trifft dieses Mal nicht nur die Ärmsten, sie treibt auch die Mittelklasse an den Rand der Armutsgrenze.
Die Herausforderungen des Wiederaufbaus treffen mit einer Finanz- und Wirtschaftskrise nie dagewesenen Ausmaßes zusammen - die Corona Pandemie verschärft die Lage zusätzlich: Das libanesische Pfund hat im vergangenem Jahr 80 Prozent an Wert verloren. Preise für Dinge des täglichen Bedarfs sind um das fünf- bis sechsfache gestiegen. Zudem verwehren Banken den Zugriff auf private Spar-Konten.
Unreal video of Gemmayze. This is heart wrenching. pic.twitter.com/7qIVBu3LTX
— Beirut.com (@BeirutCityGuide) August 4, 2020
Erinnerungen an den 4. August 2020 in Beirut
Ich gehe auf der Straße herum und versuche, einen Sinn zu finden - vieles hat sich verändert, doch gleichzeitig fühlt sich auch vieles unheimlich vertraut an. Überall ist Traurigkeit auf den Gesichtern der Menschen und ein Gefühl des Verlustes zu spüren. Viele Bars und Cafés, in die ich früher gegangen bin, gibt es nicht mehr. Viele Gebäude sind repariert worden, doch viele andere bleiben ohne Fenster, ohne Türen, ohne Zimmerdecken oder Dach. Das Leben scheint langsam wieder in Schwung zu kommen, aber der Anblick der Bauarbeiter und das Geräusch der Bauarbeiten im Hintergrund, wie auch die wütenden Plakate an den Wänden sind eine eindringliche Erinnerung an jenen schicksalhaften Tag Anfang August, an das, was verloren gegangen ist, an das, was niemals vergessen werden darf. Viele meiner anderen Freunde sind abgereist. Nach Armenien, in die Emirate, nach Deutschland, Spanien, Kanada und anderswo. Es ist ein immenser Verlust, mit dem ich immer noch versuche, mich abzufinden. Was wird ohne uns aus dieser Stadt werden? Was wird aus uns ohne einander werden?
Andere Freunde haben beschlossen, zu bleiben, wiederaufzubauen und neu zu beginnen.
Es ist über die Jahre - dieses Mal und aus aktuellem Anlass - die bereits dritte Diagonal-Erkundung in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Den Lokalaugenschein im Hafen unternehmen der Reisebeschränkungen wegen lokale Journalisten. Dort wo sich die Verflechtung von Korruption, Infrastruktur und Überlebensperspektiven in der Metropole auf drastische Weise verdichtet.
Akustische Tagebücher von den Folgen der Katstrophe auf den Alltag und die Psyche der Stadt mischen sich mit Gesprächen, die die Explosion in ihrem größeren politischen Zusammenhang einordnen.
Erinnerungen an den 4. August 2020 in Beirut
Wie kommt man mit einem überwältigenden Gefühl des Verlusts zurecht? Ich gehe weiter und versuche, einen wenigstens einen Anschein von Normalität zu finden. Es ist kurz vor Sonnenuntergang, kurz vor der Ausgangssperre, die die Regierung mit ihren jüngsten Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus verhängt hat. Inzwischen sind die Bauarbeiten eingestellt worden, Beirut wirkt wie eine Geisterstadt.
Als ich mich nach einem Taxi umschaue, das mich auf der anderen Seite der Stadt zurück nach Hause bringen soll, komme ich an einem großen Geschäft vorbei, das beschlossen hat geschlossen zu bleiben. Die Explosion am 4. August hat die Unternehmen des Landes tiefer in die Krise gestürzt, schon ein Jahr zuvor hat sich die Wirtschaftskrise zu verschärfen begonnen. Viele waren wirtschaftlich ins Straucheln geraten. An der Schaufensterfront dieses Geschäfts steht ein Schild: Geschlossen steht darauf. Ich denke, dass die Besitzer des Geschäfts eine Schimmer Hoffnung verströmen wollten: denn in kleinen unscheinbaren Buchstaben steht auch auf dem Schild: Es ist Zeit, weiterzumachen!