Krähe

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Radiokolleg

Von Krähen und Raben

Mit dem ersten Lockdown, Anfang des Jahres, trat ein neuer Besucher in mein Balkon-Leben. Die Rabenkrähe, die ich fortan „Loki“ nannte.

Das Krächzen einer Krähe oder eines Raben sorgt wahrscheinlich nicht dafür, dass man sie als die Maria Callas unter den Vögeln bezeichnen würde. Dennoch gehören Rabenvögel zur Gattung der Singvögel.

Die Nachfahren der Dinosaurier begleiten die Menschheit seit jeher, wenngleich subtiler als Haustiere wie Hunde und Katzen, oder Nutztiere wie Kühe, Schafe oder Hühner. Weltweit gibt es 120 verschiedene Rabenvögel Arten, zu denen auch Elstern, Häher, Dohlen und natürlich Krähen und Raben zählen. Besonders in Mythologie und Symbolik, man denke nur an den Ausdruck „rabenschwarz“, „Rabeneltern“, oder „diebische Elster“, haben sie sich schon lange manifestiert.

Das Ausbleiben von Menschen, die sich in Straßen und Parks tummelten zog, insbesondere für Krähen, auch den Lockdown einer praktischen Nahrungsquelle nach sich: Essensreste am Boden, auf Parkbänken und in Mülleimern. „Wenn dein Essen nicht zu dir kommt, musst du eben zum Essen kommen“, ist zumindest meine Interpretation, weshalb ich fortan eine Krähe als Stammgast haben sollte. Mein Balkon mit einem Futterhäuschen für Grünfinken, Amseln und Kohlmeisen schien, aus Sicht der Krähe, vielversprechend. Jeden Morgen klopfte er fortan an meine Balkontüre, um sein Frühstück einzufordern.

Paradigmenwechsel: anderes Gehirn, ähnliche Leistung

Die Forschung hinkte den Mythen vergleichsweise hinterher. Erst ab den 1990er-Jahren begann sich die Wissenschaft stärker für die außergewöhnliche Intelligenz und die Fähigkeiten von Rabenvögeln zu interessieren. In Österreich stellt die Konrad-Lorenz-Forschungsstelle, die seit 2011 zur Universität Wien gehört, eine der wissenschaftlichen Forschungs-Hochburgen dar. Thomas Bugnyar, Professor für kognitive Ethologie an der Universität Wien leitet dort das „Corvid Lab“. Er erforscht die soziale Intelligenz von Raben seit den 1990er-Jahren und zählt zu den Vorreitern.

„Als ich Mitte der 90er Jahre angefangen habe an Raben zu arbeiten bin ich bei einem Vortrag kritisiert worden, ob ich eigentlich weiß, dass ich nicht mehr mit Primaten, sondern mit Vögeln arbeite und ein Vogelhirn anders aussieht, als ein Säuger-Gehirn. Der Cortex, die Großhirnrinde, die wir brauchen um quasi ‚irgendwelche höheren kognitiven Leistungen zu vollführen‘, fehlt bei Vögeln. Überspitzt formuliert würden sie nichts anderes darstellen als instinktgetriebene Reflexmaschinen. Ich habe damals geantwortet, dass die Tiere laut vorherrschender Lehrmeinung die Leistungen nicht vollbringen können, auf der anderen Seite gibt es bereits einige, zugegeben wenige, Studien. Es kann natürlich sein, dass die ein kompletter Fake sind, in dem Fall täuschen uns die wenigen Leute, die bis jetzt mit Vögeln gearbeitet haben sehr gut. Auf der anderen Seite bevorzuge ich die Annahme, dass es stimmt, was sie sagen und wir einfach noch nicht das Vogelgehirn verstehen.“

Es sollte noch einige Jahre dauern, bis in der Neurobiologie mit der Erkenntnis, dass man das Gehirn von Vögeln falsch eingeschätzt hatte, ein Paradigmenwechsel eingeleitet wurde. Der Aufbau eines Vogelhirns ist im Vergleich zu einem Säugetier zwar anders, aber keineswegs leistungsschwächer.

Als Analogie könne man die unterschiedlichen Betriebssysteme von Computern heranziehen, so Kaeli Swift, Forscherin an der Universität von Washington: „Denken Sie an Apple und Windows. Beide Betriebssysteme sind in der Lage, wirklich komplexe und sehr ähnliche Operationen auszuführen. Aber die Art und Weise, wie sie das tun, ist ein wenig anders. So verhält es sich auch mit dem Gehirn von Vögeln. Diese Erkenntnis öffnete die Tür für legitime Forschung, um mehr über die Komplexität von Vögeln und ihre Fähigkeiten herauszufinden. Bevor wir das herausgefunden hatten, wären derartige Forschungen als Zeit- und Geldverschwendung, und nicht als erstzunehmende akademische Arbeit erachtet worden.“

Loki

ORF/SARAH KRIESCHE

Der Fall menschlicher Bastionen: episodisches Gedächtnis

Auf meinem Balkon entstand im Verlauf der Wochen des Lockdowns ein eigener kleiner Nahrungskreislauf. Loki die Rabenkrähe begann sich in die Wohnung zu wagen, um dem Hund Trockenfutter aus dem Napf zu stehlen. Dieses versteckte er in den Blumentöpfen. Dev/null, der Hund, begann ihrerseits allabendlich die Blumentöpfe zu inspizieren, um das entwendete Futter aufzuspüren. Was Loki wiederum veranlasste, sich in einem „unbeobachteten“ Moment in die Wohnung zu stehlen, um die Futterschüssel zu plündern.

Allen voran Raben verstecken Futter mit enormen Aufwand und viel List. Sie vermeiden dabei auch tunlichst, von einem Artgenossen beobachtet zu werden, wie Thomas Bugnyar bereits 2002 gemeinsam mit Kurt Kotrschal aufzeigte: „Kollegen aus Cambridge hatten bei einem Rabenvolgelverwandten, dem Buschblauhäher, bereits gezeigt, dass sie sich merken können, wann sie wo welches Futter versteckt haben. Das episodische Gedächtnis erlaubt uns nach hinten zu schauen und sich eine Szene in Erinnerung ruft, wie etwas früher war. Man kann mit dem gleichen System auch in die Zukunft blicken, und sich vorstellen, wie etwas passieren wollte, ‚wie es sein wird‘. Diese ist bei uns Menschen Ein Teil vom episodischen System, wenn man so will und da kann man nicht nur nach hinten schauen, wie war’s früher, dass man sich vorstellt und eine ganze Szene in Erinnerung ruft, sondern man kann mit dem gleichen System auch in die Zukunft blicken „wie wird es sein“ und kann sich vorstellen, wie was passieren sollte. Auch diese Fähigkeit konnte man dann mit den gleichen Vögeln nachweisen. Die haben bis zu einem gewissen Grad diesen „mental time travel“ drauf. Also ein bisschen nach hinten ein bisschen nach vorn schauen. Das war revolutionär,“ so Bugnyar.

Loki

ORF/SARAH KRIESCHE

Loki

Der Fall menschlicher Bastionen: Theory of mind

Ein großer Vorteil, den ich in meiner Hauskrähe sehe ist, dass sich Tauben seitdem von meinem Balkon - und dem Futterhäuschen für Spatzen und Kohlmeisen - fern halten. Loki zeigte nie Interesse, das Körner-Depot plündern zu wollen. Er bevorzugt das alternativ-Angebot, Hundefutter.

Ihre Vorliebe für Fleisch und Aas, die bei Raben noch stärker ausgeprägt ist als bei Krähen, ist einer der Gründe, weshalb die Tiere eine negative Konnotation bekamen und besonders in Sagen und Mythen oft in Verbindung mit Trauer, Tod, Vergänglichkeit oder Depression gebracht wurden. Denn die Aasfresser sind bei der Wahl des Fleisches nicht wählerisch und profitierten von Kriegen unter Menschen. Schlachtfelder waren oft übersäht von Rabenvögeln, die sich an den Überresten labten.

Auch, weil die Tiere schnell lernten im Voraus zu erkennen, wo sich eine Konfrontation abspielen würde, wurden sie oft als schlechtes Omen gesehen, so der Ornithologe Liam Barker: „Dass sie schwarz sind, was immer als diese dunkle, böse Farbe angesehen wurde, tat sein Übriges. Es sind so viele Aspekte, die uns an den Tod und unsere eigene Sterblichkeit erinnern, dass besonders Raben und Krähen bei einigen Menschen oft Unbehagen auslösen.“

Ihre Vorliebe für Fleisch stellt aber auch eine Chance für die Forschung dar, mehr über Rabenvögel, insbesondere Kolkraben, und ihre soziale Intelligenz zu lernen. Beim Kampf um Fleisch verstehen die Tiere nämlich keinen Spaß. Ein Rabe, der ein Stück Fleisch ergattert hat, versucht es vor den anderen zu verstecken. Ein Rabe der leer ausgegangen ist, beschattet ihn, um in einem unbeobachteten Moment zuzuschlagen und das Versteck zu plündern.

In einer Reihe von Verhaltenstests konnte der Forscher Thomas Bugnyar mit Kollegen im Jahr 2004 nachweisen, dass Raben, die Perspektive anderer einschätzen können. Das wiederum erlaubt ihnen, die Intention von anderen vorherzusagen und sich also in andere hineinzuversetzen. „Sie wissen also nicht nur, was der andere machen wird, sondern auch, warum er das macht, weil er bestimmte Intentionen hat, oder weil er bestimmtes Wissen hat. All das läuft unter dem Schlagwort ‚theory of mind“. Von dem man lange dachte, es sei eine der großen Bastionen der Menschheit.“

Das Katz und Maus-Spiel von Raben, die ihr Futter verstecken, beziehungsweise hervorragenden Spionen die ihrerseits versuchen, anderen die Beute zu stehlen hatte eine weitere große Intelligenzleistung zur Folge: Der Sieg des Geistes über die Kraft. „Was ich beobachtet habe ist, dass Raben, die eben nicht so gut zum Fleisch können, es gar nicht versuchen, sondern sich auf die Bäume daneben hinsetzen und warten, bis einer wegfliegt und dem nachfliegt. Und dem die Verstecke dann ausräumt. Und das ist eine tolle alternative Strategie, wo es nicht mehr darum geht, wie stark bist du, sondern, wie smart bist du.“, so Bugnyar.

2019 konnte der Forscher in Verhaltenstests zeigen, dass Emotionsübertragung, also das Anstecken von Frust bei anderen, auch bei Raben vorkommt. Was neue Hinweise auf die grundlegende Entwicklung von Empathie gibt.

Der Fall menschlicher Bastionen: Gebrauch von Werkzeug

Die wohl aufsehenerregendste Fähigkeit, die immer wieder für Schlagzeilen sorgt, ist der Gebrauch von Werkzeug. Eine ganz spezielle Krähenart die auf einer pazifischen Inselgruppe, Neu Kaledonien, vorkommt, sorgt regelmäßig für Furore. Sie verwenden nicht nur Werkzeug, sie verwenden auch Werkzeug, um an Werkzeug zu gelangen, beziehungsweise wissen auch im Voraus, welches Werkzeug sie zu einem viel späteren Zeitpunkt brauchen werden.

Bugnyar: „ Der Hintergrund, evolutionär gesehen, ist, dass es auf dieser Insel keine Spechte gibt. Es gibt aber sehr viele Insekten, die ihre Eier unter die Baumrinden legen, damit sich die Larven geschützt entwickeln können. Die fressen die Krähen gerne. Derartige evolutionäre Rahmenbedingungen können die Fähigkeiten pushen, dass sie anfangen mit Werkzeugen zu versuchen an die Nahrung zu kommen. Und dann können sie solche Werkzeuge nicht nur benutzen, sondern auch herstellen und modifizieren und was weiß ich was. Also wirklich toll.“

Bei einer anderen, weitverbreiteten, Krähenart, der Saatkrähe, gibt es keine Dokumentationen, dass sie in freier Natur jemals ein Werkzeug benutzt hätte. Allerdings, erlernen sie erstmal das Prinzip des Werkzeuggebrauchs, sind sie zu außergewöhnlichen Leistungen fähig.

Bugnyar: „Wenn man ihnen in Gefangenschaft das einfache Benutzen von Werkzeugen lehrt, zum Beispiel ‚nimm einen Stein und schmeiß ihn da rein, dann kommt auf der anderen Seite was raus‘, können sie unglaublich schnell generalisieren. Haben sie das Prinzip verstanden, beginnen sie alles Mögliche mit Werkzeugen zu machen. Dann kann man ihnen keinen Stein mehr geben, dann nehmen sie einen Stock. Dann gibt man ihnen keinen Stock, dann brechen sie sich einen Stock ab und so weiter.“

Von Menschen und Krähen

Vielleicht, oder gerade, weil Rabenvögel allgegenwärtig scheinen, werden sie oft unterschätzt, mitunter auch auf „Müllvögel“, reduziert. Denn nach wie vor profitieren die anpassungsfähigen und smarten Tiere vom Menschen und gehen quasi mit der Zeit. Statt Schlachtfeldern bieten mittlerweile riesige Müllhalden ein für Rabenvögel schier unerschöpfliches Nahrungsreservoire.

Eine andere Seite stellen Verhaltensweisen dar, in denen sich Menschen wiederfinden können. Krähen gehen lebenslange Bindungen mit ihren Partnern ein. Sie können Menschen erkennen und sie spielen gerne, zum Beispiel, indem sie sich kopfüber von einem Ast hängen, erzählt die US-amerikanische Wissenschaftlerin Kaeli Swift. Neben ihren Forschungen zu Rabenvögeln betreibt sie auch einen Twitteraccount und einen Blog, um über Verhaltensweisen, Eigenheiten und die Forschung zu informieren. Hier thematisiert sie auch wiederkehrende Konflikte im städtischen Miteinander.

Loki geht es übrigens gut. Nach einiger Zeit brachte er auch seinen Nachwuchs, Quoth, mit. Nach einem Umzug hieß es zwar Abschied nehmen, allerdings hatte ich meinen WG-Kollegen unterschätzt. Seit drei Wochen klopft er wieder in der Früh regelmäßig an meiner Balkontüre.

Gestaltung: Sarah Kriesche