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ORF/JOSEPH SCHIMMER

Tonspuren

Herbecks bebende Herzen

Ernst Herbeck, geboren 1920, war 45 Jahre lang Patient in einer niederösterreichischen Nervenklinik. Der Diagnose "Schizophrenie" waren Elektroschocks gefolgt. Sein Arzt, der Psychiater Leo Navratil, ermunterte ihn dazu, Gedichte zu schreiben. Deviante Lyrik in betörend eigenmächtigen Bildern und Diskursen.

Vor hundert Jahren kam Ernst Herbeck in Stockerau bei Wien zur Welt. Eine inoperable Lippen-Kiefer-Gaumenspalte behinderte sein Sprechen. Die Scham darüber trieb ihn in die Isolation; das Elternhaus machte ihn krank. In seiner späten Jugend traten erste Symptome der Schizophrenie auf. Er wähnte sich unter dem hypnotischen Einfluss eines Mädchens, fühlte sich ferngesteuert, litt an Gehörshalluzinationen.

Zu jener Zeit begegnete man Drogensucht, Depressionen und Psychosen mit Insulinschocks, dann mit der Elektrokrampftherapie. Bei Herbeck zeitigten diese Behandlungen keine langfristigen Erfolge. Im psychiatrischen Krankenhaus lernte er Dr. Leo Navratil kennen. Der Arzt beschäftigte sich mit den künstlerischen Erzeugnissen von Geisteskranken. Die Kunst der Gesunden und jene der Psychotiker, befand Navratil, haben mehr Gemeinsames als Trennendes, der Schaffensprozess wie die Sprachformen scheinen die Grenze zwischen Normalität und Störung nicht zu kennen.

Poetische Bilder und eine verzaubernde Brüchigkeit

Herbeck war verschlossen, sprechbehindert, einsam und mitunter jähzornig, ein schmächtiger Mann, der sich als einen der ärmsten Patienten Navartils bezeichnete. Der Psychiater versuchte, Herbeck aus seiner Isolation zu holen, er bat ihn, ein Gedicht zu schreiben.

Der Patient machte aus dem vorgegebenen Titel „Der Morgen“ Lyrik, die den Arzt nachhaltig irritierte: So typisch darin die schizophrenen Sprachmuster waren, so poetisch fand er die Bilder, die sacht und unschuldig legierten Widersprüche und Widersprüchlichkeiten, das Ineinanderwirken unterschiedlichster Elemente, die verzaubernde Brüchigkeit. Das Elternhaus mag die Seele des jungen Herbeck verheert haben, in den Gedichten finden die einst toxischen Paradoxien zu prächtigen und zarten Gestalten.

Die Diskrepanz zwischen Reden und Tun

In der Doppelbindungstheorie wird beschrieben, wie Schizophrenie entstehen kann: In einem Familiensystem, in dem das Kind sich an paradoxe Botschaften zu halten hat. Die Diskrepanz zwischen Reden und Tun der Mitmenschen, sagt Leo Navratil, erzeugt Verunsicherung.

In der engen Hölle der Familie potenziert sich die Verunsicherung zu einer beständigen existenziellen Notlage des Kindes. Jede weitere unvorhersehbare Situation wird den schon bald unter psychotischen Schüben leidenden Menschen ängstigen. Er schafft sich Auswege, seine Psyche bahnt sich bizarr anmutende Schneisen aus der elterlichen Folterkammer. Halluzinationen und andere Wahnvorstellungen übernehmen das Steuer. So wird man Patient, meist lebenslang.

Ein idealer Dichter

Ernst Herbeck war bis zu seinem Tod 45 Jahre lang Insasse eines psychiatrischen Krankenhauses. Dank Navratils therapeutischer Intervention ist ein veritabler Schatz aus Sprache gehoben worden. Ernst Herbecks Gedichte, die je nur nach Aufforderung des Arztes entstanden, haben vom Tag ihrer Veröffentlichung an Leserinnen, Leser, dichtende Kolleginnen und Kollegen aus ihren letztlich verschnarchten Blickwinkeln gekitzelt.

Herbecks Bilder sind von Charme, Witz und solcher Unschuld geprägt, wie sie nur einer zeigt, der nicht für ein Publikum schreibt und von Poetik keinen Schimmer hat. Die Gedichte nehmen ungeahnte Wendungen, phantastische Weiten erstrecken sich in den kleinsten agrammatischen Äußerungen. Ein idealer Dichter.

Viele Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind, bleiben ihr Leben lang stumm, finden keinen Weg aus ihrer Hölle, sei es auch nur für die Dauer eines Gedichtes. Jede Art von künstlerischer Äußerung scheint, aufgrund der Ähnlichkeiten von kreativem Schaffen und Psychose, dem Patienten und der Patientin Erleichterung zu verschaffen. Ernst Herbeck hat darüber hinaus ein beträchtliches dichterisches Werk hinterlassen.

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