GEMEINFREI
Ö1 Kunstgeschichten
"Ein Versuch über das Sehen" von Friederike Schwab
Der deutsche Maler und Grafiker Paul Klee (1879 bis 1940) verfasste neben einem umfangreichen bildnerischen Werk auch kunsttheoretische Schriften zu Fragen der Wahrnehmung von Kunst und zur Erweiterung bildlicher Bedeutungszusammenhänge. Mit ihrer "Ö1 Kunstgeschichte" folgt Friederike Schwab Paul Klees Kunstphilosophie anhand seines berühmten Bildes "Der Goldfisch". Die Ö1 Erstveröffentlichungsreihe "Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.
11. Jänner 2021, 13:31
Ein Mensch steht einem Bild gegenüber. Betrachtet. Verharrt, ins Schauen versunken. Er analysiert noch nicht. Es ist jenes Sehen, das gehorsam, dehnbar, Geduld sein will. Sich dem Moment bloßen Gewahrseins, einer Form offenen Abtauchens in Form und Farbe verdankt.
Ich sehe das Werk "Goldfisch" von Paul Klee auf dem PC, mache ein Foto davon, suche im Bücherregal einen Band mit seinen Werken. Ich würde mir eine Vergrößerung des Bildes wünschen. Der allererste Moment ist jener Augenblick, der sich der Zeitwahrnehmung entzieht. Der Vorgang des Sehens scheint unbemerkt zu geschehen, verläuft sich, zeichnet ein Flussbett nach innen. Eine nicht endende Bedürftigkeit nach Verstehen setzt ein.
Von einem Bild ins Licht gezogen werden. Ein Impuls, ein Akt des Lichtwerdens könnte man sagen. Und das, obgleich von einem Gemälde wie von dem vom Goldfisch, der von Pflanzen und kleinen Fischen umgeben ist, alle Zeichen, also alle Symbole bekannt sind. Dennoch: Alles will jetzt mehr sagen, als die beschreibbare Natur sagen kann.
Friederike Schwab wurde 1941 in Graz geboren, wo sich heute ihr Atelier befindet. Sie studierte Malerei an der Kunstgewerbeschule am Grazer Ortweinplatz. Als Bildende Künstlerin bearbeitet sie Holz und Steine, und sie gestaltet Objektkunst. Als Autorin schreibt Friederike Schwab Hörspiele, Romane, Erzählungen und Lyrik.
Ich hier, der "Große Goldfisch“ von Paul Klee dort. Weniger als eine Armlänge entfernt, nah und fern zugleich. Eine Kopie vom Original. Titel des Werkes: „Goldfisch“, gemalt 1925 in Bern, angekauft 1955 von der Hamburger Kunsthalle. Größe 49,6 cm x 69,2 cm. Technik: Öl und Wasserfarbe auf Papier, aufgezogen auf Karton. Als Paul Klee im Frühjahr 1925 an diesem Werk arbeitete, stand in seinem Atelier in Dessau ein großes Aquarium. Sein Gedächtnis speicherte vermutlich noch eine Erinnerung an das berühmte Aquarium von Neapel, das er bei seiner Italienreise im Frühling 1902 besuchte: ein Meer im Glas als imaginiertes submarines Ziwschenreich.
Sehen, um auf eine Sprache zu stoßen, auf Zeichen für erlebte Resonanz. Auf einen Ton, der trifft, auf einen Widerhall. Ein Mitsprechenwollen, ein Bedürfnis nach Zwiesprache.
Sehen kommt vor dem Sprechen, lese ich in John Bergers berühmten Kunsbetrachtungen in seinem Buch "Über das Bild der Welt in der Bilderwelt". Poesie hat nichts mit schöner Auskleidung zu tun. Sie entsteht, sobald das Gegenüber, die Landschaft, der Fisch, das Wasser, was immer, in Resonanz zu schwingen beginnt. Aufmerksam auf filternde Pendelschläge zwischen gut und weniger gut, schön und weniger schön. Die Bedingung ist, Bewertungen auszuhebeln; ins Klare zu heben was allein wie ein Ganzes dasteht. Denn es geht um viel, es geht ums Ganze: "Im Weltganzen verankert sein", nennt es Paul Klee.
Magda Kropiunig, Klagenfurterin des Jahrgangs 1977, studierte an der staatlichen Schauspielakademie in Ljubljana. Sie spielte unter anderem Stadttheater Klagenfurt, am Slowenischen Nationaltheater oder am Wiener Rabenhoftheater, und sie ist als Radiomoderatorin und als Sprecherin für TV-Dokumentationen bekannt.
Von der Wirkung des Sehens, jenem Absuchen und Fixieren zentraler Punkte, dem Einordnen und Scharfstellen des bloßen Wahrnehmens als Orientierung aufs Hier und Jetzt, dem Augenblick schöpferischer Tätigkeit, schreibt Klee in sein Tagebuch lange vor der Entstehungszeit des Goldfisches: "Manchmal gehts ohne Kampf. Ich reihe dann Unschuld an Unschuld. Der Wille liegt unter Narkose."
Nun habe ich per Post eine Kopie des Goldfisches zugestellt bekommen. Das Bild in Originalgröße lässt, anders als das Bild im PC, die feinsten Konturen verfolgen. Spaltet für den Augenblick Farbe und Zeichnung. Kratzspuren befreien den tiefer liegenden Untergrund, helfen den rötlichen Strahlenkranz der Flossen, die Ornamentik des Auges, die Spiralen der Wellen im schwarzen Wasser hervorbrechen zu lassen. Filigrane Gräser in Violett blühen, wachsen, wehen.
Könntest du die Mitte, die du einnimmst, verlassen, würde ich den Goldfisch gern fragen. Der Raum hinter ihm ist um wenige Zentimeter schmäler als jener vor ihm. Das heißt doch, dass bereits auf Fluchtmöglichkeiten gelauert wird. Ist das Verbleiben also Stille zu nennen? Die kleinen Fische erreichten längst den Bildrand.
Im Moment des Innehaltens vor dem Bild taucht zum Glück keine rationale Zuordnung auf, nichts naturwissenschaftlich Aufgezeichnetes, kein postulierendes Einordnen, kein Urteil darüber, ob das Bild nun real einen Goldfisch zeigt oder nicht. Ein einfacher Ton klingt an. Dann ein zweiter, dritter. Farbphänomene regen an. Entziehen den Sekunden das Entkommen, liefern Berührung statt Zeit. Alles was ist, ist hell auf dunkel, schwarze Tiefe, ist blau und gold und grün. Ein König, sein Reich, seine Untertanen, würde ich sagen, wenn etwas zu sagen wäre. Oder: Mysterium, dämonische Ansiedelung. Das Rätsel der Resonanz - ähnlich dem Rätsel und Glanz eleganter Farbsymphonien - zieht mittels Energie aus dem Bildraum. Der Fisch ist ein Lichterlebnis über dem dunklen Becken eines magischen Rechtecks.
Viel später erst werde ich fragen: was bedeutet hier Bildmitte? Was ein Wort? Noch dazu Worte wie "König" und "Reich"? Was Illusion oder Traum? Ich werde den Zahlenstab über die räumlichen Distanzen des Werkes legen und einen Raster für eine Kopie entwerfen, um die Positionen der sich kreuzenden Fluchtpunkte zu vermessen. Ich werde an Stille und Ruhe appellieren, an die Akribie und Genauigkeit von Paul Klee, seine streng geordneten und nummerierten Tagebuchaufzeichnungen, die uns in eine Welt der Imagination, der Malerei, der Musik und der Literatur entführen. Anstelle seiner Dialoge, Aphorismen, Briefe, Kritiken und Reiseberichte werde ich den allerersten Moment des Erkennens festhalten und wie in Zeitlupe meinen Eindruck vom Goldfisch als Mittelpunkt eines Gemäldes aus dem Gedächtnis aufs Papier transportieren.
Inspiriert von gezacktem Linienspiel und blauem Pflanzengrund, dem Dunkel der Tiefe dahinter, wandert das Auge der Betrachterin direkt zu mir, würdest du sagen, Fisch, Goldfisch. Dabei ist alles ganz einfach: Ich leuchte. Wir könnten einander entgegenleuchten. Was lebt, lebt eben als Farbe, und Farbe ist Energie, Kraft, Wirbel. Die erlebte Berührung spricht lautlos, sagen wir, lauthell fährt sie dir unter die Haut. Wie Musik. Sie buchstabiert mit Nuancen statt mit Noten. Vom Maler in Form gebracht, schafft sie seine Idee - also mich, den Goldfisch. Was willst du, ich bin Malerei, Schwingung, zugleich Außenhaut, Konstruktion, die sich aus Vorhandenem speist. Lesbar für Augen im Sekundenbruchteil des Lesens. Sag einfach: Ein Spiel, und vom Spiel ins Existenzielle übersetzt, also abstrahiert, eine Expertise, von mir aus: wilde Ahnung. Ein Spiel voll Ernst.
Bereits 1902 schrieb Klee: "Im Weltganzen verankert sein, hier fremd aber stark, das wird wohl das Ziel sein."
Ich ziehe mit dem Messer eine tiefe Spur in eine Serviette, ziehe zwei Bögen, konkav und konvex, weiß zeichne ich auf weißem Papier, und weiß ist für den Maler bereits eine Farbe. Schaut man auf die Drehbewegung eines Farbkreises, zeigt sich weiß als die Summe der Farben. Wissenschaftlicher: Licht im sichtbaren elektromagnetischen Spektrum wird in der menschlichen Empfindung als Farbe erkannt.
Doch zurück zu mir: Ich forme eine Grundform, ähnlich einem Symbol, nämlich das Motiv Fisch, ziehe eine konvexe über eine konkave Linie und drehe das Bild. Die Veränderung ist gering. Zwei offene Schalen, die als Gesamtes und geschlossen ein bewegliches Ganzes ergeben.
Was plötzlich allzu rasch als Symbol wirkt, und dem Sinnlichen entwischt, religiöse, ja mystische Züge aufweist, bekommt Zeigefinger. Wirft mir Deutbares zu. Rituale. Tier und Hunger verbinden sich hier. Blut, Fleisch und Gewalt ebenso. Vom Tier wird verlangt, immer noch?, brauchbar und erklärtes Wesen zu sein, zudem materiell verfügbar. Das Wissendsein bleibt ihm entzogen. Es wird in die Nebelzone des Instinktes und in die Nahrungskette transponiert. Am ehesten als Teil der Artenvielfalt geschätzt.
Das Messer beiseite legen. Die Schule des Sezierens vergessen. Mein amouröses Abenteuer, dir, Goldfisch, nahe zu bleiben, wird von dir nicht belächelt, ganz im Gegenteil, du zeigst scharf deine Zähnchen. Zeigst deinen Körper, ein Ich, das goldfarben auf tiefblauem Grund residiert. Das rote Auge als in den Hintergrund gekratzter Kreis. Rötliche Fäden, Linien für die Flosse deuten eine Krone an, eine winzige Schwanzflosse, unbewegt, ein Abwarten und Lauern. Du versprichst, die täglich an dir vorbeidefilierende Menschenmenge im Museum überschwimmend zu überdauern. Ignorierst Jahreszahl, Entstehungszeit, Bedingungen eines Bildes. Frühling 1925. Ein warmer Tag? Regen? Vom ersten Strich weg Fisch sein, war es so? Ist Fischwerden nicht Geburt? Zeitwortaktiv. "Von der Linie weg im fortschrittlichen Sinn", schrieb Paul Klee in jungen Jahren. Und viel später erst: "Ich bin ein Maler."
In der Tiefe und im Nuancenreichtum einer Farbe verzeichnen sich Ereignisse unterschiedlich, anders auf Papier, anders auf Karton oder Leinen. Anders in Aquarellfarben und wieder anders in der Ölfarbenmalerei. Der Künstler arbeitet am Abgleichen der Empfindungen mit seiner Vision. Arbeit. Strich für Strich Konzentration. Probeweise vielleicht ein Tönen, diese Farbe, eine andere.
"Der Grund ist nicht Licht, sondern Nacht; dass die Energie eine aufhellende ist, entspricht dem Vorgang in der Natur." Schreibt der Maler. Er beobachtet die Wirkung von Schwarz, das Negativ eines Fotos. Er reflektiert: "Ich beginne logischerweise beim Chaos, das ist das Natürlichste. Ich bin dabei ruhig, Es ist bequem, fürs erste Chaos sein zu dürfen." Eine Aufzeichnung lange vor der Entstehungszeit jener Bilder vom Gleichgewicht, zu denen wohl auch das Bild "Der Goldfisch" gehört.
Chaos. Dann Zurücktreten. Aufatmen. Ähnliches aktiviert auch der Versuch des Sehens. Das Auge steuert auf die größtmögliche Farbberührung zu. Deshalb zurück zu dir und zum Bild, Goldfisch. Dein Konzept, deine Perspektive? Dich hält kein Raum, keine Impression von Raum, sondern Tiefe, Urgrund, Raum als pure Empfindung, nicht wahr? Nicht die einer Oberfläche, einer äußeren Realität. Nur die kreisrunden Augen der dich begleitenden kleinen Fische, die in alle Himmelsrichtungen die Bildfläche um dich herum so rasch wie möglich, ja beinahe verängstigt, verlassen wollen, intonieren wie mit Notenpunkten ihr Ganzes, ihr volles Gesicht. Einfachste Linien, gemalt und gekratzt, schaffen auf schwarzem Grund Wellen, emporwachsende Gräser, Pflanzen, im Auf und Ab Ordnung und Ruhe.
"Die Schönheit, die von der Natur vielleicht nicht zu trennen ist, bezieht sich doch nicht auf den Gegenstand, sondern auf die bildnerische Darstellung. So und nicht anders überwindet die Kunst das Hässliche, ohne ihm aus dem Weg zu gehen", schrieb Paul Klee.
Sehen begriffen als Übertragung und Kontakt mit Farbfeldern und Strichen. Vom Ich zum Bild. Vom Bild zurück zum Betrachter, zur Betrachterin. Verschränkungen, die individuell bleiben. Individuell ist auch die Berührung, die sich einer Erkenntnisposition verdankt. Äußeres Sehen - inneres Schauen - es ist als höre man ein Musikstück. Frühe Erinnerungen öffnen den emotionalen Speicher. Die Hand, die ein erstes Mal in den Schnee fasst. Erste Kleider, die eigene Haut und die raue Schuppenhaut eines Fisches. Situationen als Reaktion auf Ängste, Kampf und Wut. Den Pinsel mit Wasser und Farbe langsam über ein Papier führen. Farbstraßen anlegen. Sonnen und Sterne. Eine Krone. Dem Sinn der Sinne danken, wenn er die Führung übernimmt.
Ein Mensch verharrt einem Bild gegenüber. Betrachtet es. Versucht Lichtentfaltungen aufzuspüren. Erinnert sich an den staubigen Geruch eines Museums. Er setzt einen Kontakt in Kraft, der frei von Zuordnungen berührt, um hinter dem Sichtbaren feine Fingerspuren, eine imaginäre Quelle zu orten. Im Moment bloßen Gewahrens, einer Form offenen Abtauchens in Form und Farbe, gelingt es vielleicht, außerhalb linearer Vorstellungen mit dem Gemälde "Goldfisch" von Paul Klee ins Gespräch zu kommen.
Alle Zitate sind Paul Klees Tagebüchern entnommen.
Redaktion: Edith-Ulla Gasser