Phalaris lässt den Künstler Perilaos in den Bronzestier einschließen (Kupferstich von Pierre Woeiriot, 16. Jahrhundert).

GEMEINFREI

Ö1 Kunstgeschichten

"Der Stier" von Gerhard Naujoks

In seiner "Kunstgeschichte " beschreibt der Wiener Autor und Schauspieler Gerhard Naujoks ein antikes Kunstwerk, das zugleich ein Folterinstrument war. Der "Sizilianische Bulle" wurde von einem Erzgießer aus dem Athen der Antike geschaffen. Die überlieferte Geschichte dazu zeigt, dass den grausamen Erfinder am Ende der eigene Fluch trifft. Die Ö1 Erstveröffentlichungsreihe "Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.

Die Farben sind anders, eine eigenartige Mischung aus Rot und Cremefarben. Auch die Formen sind anders. Östlich. Pozor! Vorsicht! Vorurteil. Stimmt aber: Diese Ostblockästhetik im Zugverkehr, diese blau-creme Mischung oder grün-creme Mischung bis hin zur besonders befremdlichen dunkelbraun-creme Mischung; und runder sind die Formen. Hier also: rot-creme. Himbeer-Haselnusseis. Die Sitzbank ganz hinten ist gegen die Fahrtrichtung angebracht. Schön, dass die Waggons abgerundet sind. Auf der sich nach außen wölbenden Panoramascheibe ziehen Regenbächlein Schlieren. Rückwärtsfahrt. Und vor meinen Augen vermählen sich die glänzenden Gleise in überschaubarer Vergangenheitszeit.

Valtice. Raus aus dem Zug. Kapuze über den Kopf. Auf ins Zentrum. Hässliche Protzvillen mit Gipslöwen als Torwächter inmitten des allgemeinen Häuserverfalls. Es zieht sich. Scheußliche Wege dauern länger. Vielleicht doch eine Station zu früh ausgestiegen? Da, das berühmte Barockschloss der Liechtensteiner. Rein ins Trockene und in Ruhe eine Besichtigung machen.

An der Kassa Gedränge. Die Einheimischen drängen sich vor. Ich bleibe sprachlos übrig. So ist das also. Allein in der Fremde, alleine inmitten der fremden Sprache. Die tun so, als wär ich gar nicht da.

Der Wiener Autor und Schauspieler Gerhard Naujoks, geboren 1958 in Oberösterreich, hat lange an verschiedenen Bühnenhäusern gespielt, darunter sieben Jahre am Wiener Burgtheater. In TV-Produktionen spielt er häufig die düsteren und bedrohlichen Charakterrollen. Den Ö1 Hörerinnen und Hörern ist Gerhard Naujoks vor allem als Hörspielautor bekannt.

Endlich an der Kassa. Die Frau dahinter wischt mit der offenen Handfläche quer durch die Luft. Zu spät. Heute kein Einlass mehr. Sie schließen mich aus. Aus ihrem Schloss. Nein, ich werde kein Fremdenfeind, hier in der Fremde kein Einheimischenfeind. Sehe ich mir eben den Schlosspark an. Ist kein Barockgarten mehr, wurde irgendwann in einen Englischen Garten verwandelt. Schade.

Ein Wegweiser: "Muzeum torture". Torturenmuseum? Ach so, ein Foltermuseum. Interessiert mich das? Aber der Regen und der matschige Boden nerven, also … Der Eingang. Modrig riecht es heraus. Verfaulte Vergangenheit. Steil führt die Steinstiege hinab in das Gruselkabinett der menschlichen Unmenschlichkeit.

Bin nicht als einziger vor dem Regen in die Unterwelt geflohen. Auch Familien mit Kindern. Jugendliche lachen zu laut. Kinder starren starr. Mit Grund hier im Untergrund. Alte Eisenwelt. Rost. Geräte der menschlichen Erfindungskraft. Grenzüberschreitungen.

Ein Thron, aber Vorsicht, pozor!, nicht hinsetzen. Überall sind spitze eiserne Dornen, selbst auf den Armlehnen, und Eisenspangen zum Befestigen der Gliedmaßen. Daneben eine Eiserne Jungfrau.
Dornenkrönung für den König und die Königin der Schmerzen.

Der gemauerte Erdkeller vollgeräumt wie die meisten alten Keller. Gerümpel, (hier) Foltergeräte:
Daumenschrauben, Spanische Stiefel, Streckbank, Judaswiege, Würgeisen, Brustreißer.

Eine alte Zeichnung: Eine Frau ist rücklings über einen Holzbock gespannt, der Querbalken in ihrem Rücken lässt sich mit einer Kurbel durch ein Holzgewinde hochschrauben. Er drückt in ihr Kreuz, ihr Bauch ragt in die Höhe. Ihre Beine sind mit Seilen an Eisenringen im Boden befestigt, ihre Arme sind breit gespreizt über ihrem Kopf auch nach unten gebunden. Zu einer Bogenbrücke ist ihr Leib verformt. Ist ihr Kleid durch die Dehnung über den Brüsten aufgerissen? Hinter ihr sitzt ein Folterknecht und hält ihren Kopf in seinem Schoß. Ihre wilden Haarsträhnen fallen über seine Beine. Aus ihrem Mund ragt etwas, das wie ein Kuhhorn, ein Trinkhorn aussieht. Ein zweiter Folterknecht, auch er kurzhaarig, gießt aus einem Krug eine Flüssigkeit in das Horn. Ist es Wasser oder ist es der Schwedentrunk, eine Mischung aus Jauche, Urin, Kot und Schmutzwasser? Im Hintergrund stehen zwei Männer mit langen Haaren. Der eine hält eine Schreibfeder in der Hand, ist vorgebeugt in gespannter Erwartung oder will er nur eine bessere Sicht auf den Frauenkörper? Der andere hat den rechten Arm erhoben, mahnend ein Geständnis abzulegen.

Das nächste Bild. Ein Mann kopfüber in einen Holzrahmen gespannt. Die Beine weit auseinandergespreizt. Zwei Folterknechte haben mit der Baumsäge den Unterleib schon vom Schambein bis über den Nabel aufgesägt.

Mir reicht es! Moment. Was ist das denn? Sieht lustig aus. Eine Maske aus Eisen. Da liegen noch andere auf einem Tisch. Schandmasken. Die da hat einen Schweinerüssel und lange Ohren. Verbirgt das ganze Gesicht. Hat nur kleine Sehschlitze. Blickfeldverengung. Wer damit am Pranger steht, der hat keine Chance irgendeinem Wurfgeschoß der johlenden Menge auszuweichen. Was hat so ein Schweinemaskenmensch wohl angestellt? Vielleicht ein Schweinigel, Ehebrecher, Lüstling? Sollte die Maske das wahre Ich zeigen? Das Charakterschwein?

Eine Maske mit langer gebogener Nase und Eselsohren. Eine Neugierdsnase? Steckt seine Nase in Dinge, die ihn nichts angehen und lauscht mit seinen langen Ohren in Geheimnisse, die ihn noch weniger angehen?
Aus dem nächsten Maskenmaul hängt eine Eisenzunge. Die Ohren sind eingerollt. Ein Schwätzer? Gar ein Verleumder? Einer, der übel nachredet? Diese Maske entstellt den mundtoten Träger nicht nur zur Kenntlichkeit, setzt ihn dem Hohn und dem Spott aus. Diese Maske verletzt den Körper. Die Eisenzunge endet nicht zwischen den Lippen, sie dringt in die Mundhöhle ein, verdickt sich zu einer scharfzackigen Maulbirne, die die Fleischzunge zerfetzt und schließlich abtrennt. Den Schutz der Gemeinschaft, den hat der Maskierte verloren. Hier wir, die rechtschaffenen Menschen und dort das sich im Unrecht suhlende Tier.

Wer hat alle diese Foltergeräte gezimmert, geschmiedet, gegossen? Handwerker. Verwirklicher der dunklen Wünsche.

Ein bronzener Stier, lebensgroß nachgebildet.
Der "Sizilianische Bulle" erdacht und erschaffen von einem Handwerker, einem Künstler: Perilaios, Erzgießer aus Athen. Ein Kunstwerk, das ist klar. Eines das alles übertrifft an Schönheit und Lebendigkeit. Nicht nur lebensnah, nein, leben soll es. Und töten soll es auch.

Ein Klang. Ein gewundenes Metallröhrensystem im Innern, das die grellen Todesschreie verwandelt in das dumpfe Gebrüll eines Stiers. Die leblose Statue zum Leben erweckt durch den Todeskampf in ihr.
Ein Folter-, ein Hinrichtungsgerät, abschreckender als alles bisher Dagewesene, grausam, doch tönend so unwiderstehlich wie Sirenengesang. Ein todbringendes Musikinstrument!

Durch die verschließbare Klappe wirft man das Opfer in den hohlen Stier. Unter dem Bullenbauch wird ein Feuer entfacht. Schnell und gleichmäßig erhitzt sich das gut gewählte Metall. Die Hitze versengt zuerst die Haut. Rauch im Stier. Atemnot. Nur durch das Mundstück des Röhrensystems, das zum Stiermaul führt, kann noch geatmet werden, geschrien vor Schmerz, denn der Körper wird gebraten, die Hitze steigt auf 400 Grad. Da ist es schon trocken und zäh, das Opferfleisch. Doch zehn Minuten lang erklingt das Bullengebrüll, feinste Musik für die Ohren des Tyrannen Phalaris. Zehn Minuten lang kann er sich mit geladenen Gästen beim Festmahl am Brüllen des Bullen erfreuen, gewürzt mit Kräutern das Opfer (Rosmarin, Thymian, Kümmel, Liebstöckl …,) damit der Geruch des verbrannten Menschenfleischs die feinen Nasen nicht stört. Zehn Minuten, dann wird der Stier wieder zur leblosen Statue. Todesstille in ihm.

Etwas Unvorstellbares, selbst für den Tyrannen Phalaris von Akragas, den Kinderfresser, berühmtberüchtigt für seine Grausamkeit.

Pozor!

Von großer Schönheit ist dieses Werk, vom großen Erfindungsgeist seines Schöpfers zeugt es.
Aber wird man nicht schreien: Wahr ist es, Phalaris ist der Grausamste von allen! Röstet seine Feinde im glühenden Bullen! Kranker Typ mit kranker Fantasie. (Wie kommt er nur auf so eine Idee?)

War’s nicht, Phalaris war’s nicht. Der Künstler war’s, Perilaios, der Erzgießer. Vom Ehrgeiz zerfressen das Gehirn. Will Erster sein. Kann er haben.

Wie den Künstler belohnen, der solch ein glühendes Monster erschuf? Dessen Fantasie selbst die eines Tyrannen übertrifft? Hybris. Das schadet dem Ruf. Dem Ruf, der Angst und Schrecken verbreitet und die Macht festigt. Über dem Herrscher ist niemand. Niemand unter den Lebenden. Zur Belohnung darf Perilaios, der Erzgießer, der Künstler der Erste sein. Der Erste, der brüllt wie ein Stier. Niemand übertrumpft den Herrscher!

Raus hier. Flucht! (Es regnet noch stärker, egal.) Durch den Matsch des Schlossgartens, die Kapuze über dem eingezogenen Kopf, eingezogen wegen des Wetters oder wegen des "Muzeum torture"?

Luft, wenn auch Regenluft. Die steile Straße hinauf, die zur ehemaligen Grenze führt. Links und rechts Weingärten. Der rechts ist verwahrlost. Die Weinstöcke, von graugrünen Flechten befallen, ragen nur wenig über die hohen bräunlichen Gräser. Keine einzige Traube. Nur rostroter Austrieb. Auf der linken Seite sind die Reben gepflegt und voll fast überreifer Trauben. Sie glänzen regennass. Spät sind sie dran mit der Lese. Ein ausrangierter Eisenbahnwaggon, mit gebogenen Blechplatten geflickt, keine Räder, auf Holzklötzen aufgebockt, steht am Rand des Weingartens. Niemand da.
Nur eine Handvoll Trauben. Süß.

Pozor!

Ein alter bulliger Mann, weiße Bartstoppeln im ledergegerbten Gesicht, steht in der Tür. Steigt über die umgedrehte Bierkiste, die ihm als Treppe dient, herab zu mir. Sieht auf die Trauben in meiner Hand. Spricht mich an. Ich verstehe nichts. Ich spreche nur … Sein Gesicht hellt sich auf. Deutsch.
Er deutet auf die offene Tür. Ein kleiner Plausch und ein Bier in seiner Hütte? Aufwärmen. Da kann ich schlecht Nein sagen.

Befremdliche Farbkombination an den Innenwänden. Osten. Bronze-Creme. Karamell-Haselnusseis. Die Bierflaschen öffnet er mit einem Feuerzeug.
Er kniet sich vor den Kanonenofen, schiebt Zeitungspapier und kleine Holzscheite hinein.
Der Hüter ist er, der Weinberghüter.
Das trockene Holz fängt Feuer und springt knisternd und knallend auf. Selten ist dieser Beruf geworden. Aber langsam dämmert den Weinbauern, dass die automatischen Schussanlagen nur kurz was nützen.

Ein größeres Holzstück durch die Ringöffnung oben.

Die Vögel, nicht blöd, gewöhnen sich an das monotone Krachen, und fressen weiter die Trauben. Das passiert beim Hüter nicht. Vielfältig sind seine Mittel, die den Schwarm mit Schrecken auf- und davon fliegen lassen.

Einen Schnaps? Selbst gebrannt. Trebern. Beim Anstoßen schwappt mein randvolles Glas über.

Früher, da war er hochgeachtet, er, der die Trauben beschützt vor allerhand Getier. "Alles was ein Arsch hat frisst auch Trauben" war ein Hüterspruch. Auch ein Dieb hat einen. Noch ein Schnaps?

Ganz früher wurden dem Traubendieb die Ohren oder die Hände abgeschnitten. Oder er kam an den Pranger.

Ist das jetzt der dritte oder schon der vierte Schnaps?

Ein bewaffneter Dieb durfte vom Hüter erschossen werden. Heute will das keiner mehr machen, das Hüten.

Seine Jacke. Das Zeichen am Kragenspiegel. Hundsköpfe. Das Zeichen der Choden, der Wächter über die Grenzsteine. Die Uniformjacke der Grenztruppe am Eisernen Vorhang. Ihr Wahlspruch: Niemand kommt durch.

Musik? Warum nicht.

Ein orangefarbener tragbarer Kofferplattenspieler mit Batteriebetrieb. 70er Jahre. Die Scheibe ragt über das Gerät, der Deckel ist der Lautsprecher. Mono.

Der Weinhüter füllt die Gläser. Er prostet mir zu, murmelt: Niemand kommt durch.

Scharf brennt es in der Kehle. Harter Stoff. Heiß ist es. Ist das der Schnaps oder der Kanonenofen? Bewegen wir uns? Das hört sich an, als würde der Eisenbahnwaggon von Pferden gezogen. Wohin?

Der Weinberghüter öffnet den Ringdeckel des Ofens. Er wirft einen Bund Kräuter ins Feuer. Eine Rauchsäule steigt hoch, breitet sich in Schwaden aus. Rosmarin, Thymian, Kümmel, Liebstöckl.

Im Schein der Flammen leuchtet sein massiger Bullenkopf bronzen. Er grinst mich breitmäulig an: Den Dieb fassen und bestrafen, das ist mein Beruf, meine Berufung.

Glühen die Wände? Das Karamelleis und das Haselnusseis laufen ineinander. Meine Haut brennt. Luft. Die Tür, die Fenster. Verklebt von der hitzeblubbernden bronzenen Farbschicht.
Das Ofenrohr! Mit bloßen Händen, Brandblasen, herausreißen, an den Mund halten, Brandblasen, Luft holen. Brüllen.

Schön, dass die Waggons hinten und vorne abgerundet sind. Bin im letzten Waggon. Die Sitzbank ganz hinten ist gegen die Fahrtrichtung angebracht. Auf der sich nach Außen wölbenden Panoramascheibe ziehen Regenbächlein Schlieren. Rückwärtsfahrt und vor meinen Augen vermählen sich die glänzenden Gleise in unüberschaubarer Vergangenheitszeit.

Redaktion: Edith-Ulla Gasser

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