Szenenausschnitt, "La Traviata"

WIENER STAATSOPER/MICHAEL PÖHN

Wiener Staatsoper

Simon Stone über "La Traviata"

Der Jubel des Premierenpublikums wäre ihnen wohl sicher gewesen, Pretty Yende und Juan Diego Flórez als Violetta und Alfredo. An der Wiener Staatsoper hatte - vor leerem Saal - Giuseppe Verdis "La Traviata" Premiere, ORF III hat live übertragen. In der Inszenierung von Simon Stone ist Violetta eine Influencerin und YouTuberin, die ihr ganzes Leben öffentlich macht. Ein Gespräch mit dem schweizerisch-australische Regisseur über seine Neudeutung.

Pretty Yende und Juan Diego Flórez

Pretty Yende und Juan Diego Flórez als Violetta und Alfredo

WIENER STAATSOPER/MICHAEL PÖHN

Aus Alexandre Dumas "Kameliendame", der literarischen Vorlage für Verdis "La Traviata", macht Theatervisionär Simon Stone ein klassenkämpferisches Sittengemälde, das aufzeigt, wie Eliten sich bis heute nach außen abdichten.

Flüchtige Wonne, Lebensgenuss, Hedonismus pur besingt Violetta auf einer Upperclass-Party, während der schüchterne Alfred an der Spitze einer meterhohen Champagnerglas-Pyramide die Flasche entkorkt und versucht, bei seiner Angebeteten Eindruck zu schinden. Die Edelkurtisane Violetta ist im 21. Jahrhundert eine Influencerin und YouTuberin; in Gestalt der südafrikanischen Sopranistin Pretty Yende erscheint sie wie die Angehörige einer ethnischen Minderheit, die über die sozialen Medien versucht, ihren gesellschaftlichen Status zu erhöhen.

"In den 1940er- und 50er-Jahren war es in den USA der klassische Fall, dass man als Afro-Amerikaner Boxer oder Jazzmusiker werden musste, um in dieser Gesellschaft Macht zu haben", sagt der Regisseur Simon Stone. "Aber dann ist man nur Entertainer. Und das ist Violetta auch."

"Wir haben uns leider nicht gebessert"
Simon Stone

"Es macht sehr viel Spaß, das Werk mit unserer Welt zu vergleichen. Es ist tragisch, dass es - wie oft in meiner Arbeit - so einfach ist, das Werk in die Gegenwart zu übertragen. Das bedeutet: Wir haben uns leider nicht um viel gebessert." Simon Stone

Bildgewaltige Kapitalismuskritik

Mit der zeitgenössischen Deutung von Klassikern wie dem Medea-Stoff hat Stone schon bei den Salzburger Festspielen oder am Wiener Burgtheater Erfolge gefeiert. Seine Violetta macht ihr ganzes Leben öffentlich und hält ihre Follower via Instagram auch über ihren bedenklichen Gesundheitszustand und ihre Arztbesuche auf dem Laufenden. Ihre Postings werden ebenso großflächig auf die Bühnenwand projiziert wie der Handychat mit ihrem Verehrer Alfred - so beginnt eines der berühmtesten Liebesdramen der Operngeschichte.

"Pretty Yende könnte auch Schauspielerin sein", Simon Stone

Großformatige Videoprojektionen sind bereits ein Markenzeichen von Simon Stone. Als bildgewaltige Kapitalismuskritik erzähl er den Leidensweg von Violetta und Alfred, die ihr gemeinsames Glück erst am Sterbebett finden. Seine Inszenierung feierte im Herbst 2019 an der Pariser Oper einen großen Erfolg, zu dem wesentlich auch die beiden Hauptdarsteller beitrugen: Pretty Yende und der französische Tenor Benjamin Bernheim. Sie wurden als neues Traumpaar der Opernwelt gefeiert.

Pretty Yende und Juan Diego Flórez

In Wien ist von den beiden nur Pretty Yende zu erleben. Die Sängerin absolvierte an der Wiener Staatsoper erst zu Saisonbeginn ihr Hausdebüt. Die Violetta bezeichnet sie als eine ihrer Lieblingsrollen.

"Violetta verlangt ständig gioia, nach einer Freude, die über die materiellen Dinge hinausgeht. Es ist nicht nur ‚happiness‘, sondern eben ‚joy‘", meint die Sopranistin. Mit Juan Diego Flórez als Alfred steht ihr ein Wiener Publikumsliebling zur Seite - der Tenor fungiert als Einspringer für den Franko-Kanadier Frédéric Antoun, der wegen der aktuellen Reisebeschränkungen seine Mitwirkung absagen musste.

"Äußerst solide, äußerst repertoiretauglich": So beurteilten Kritiker jüngst Calixto Bieitos "Carmen"-Inszenierung an der Staatsoper. Ganz Ähnliches wird sich wohl auch über diese "Traviata"-Neudeutung sagen lassen.

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