Ben Lerner

SUHRKAMP VERLAG/TIM KNOX

Straßenbau des Geistes

"No Art" - Gedichte von Ben Lerner

Der US-amerikanische Schriftsteller Ben Lerner schreibt Gedichte und Romane und beides gleich erfolgreich. So war sein Lyrikband "Angle Of Yaw", auf Deutsch "Scherwinkel", für den National Book Award nominiert, sein Roman "Die Topeka Schule" für den Pulitzer Prize. Im deutschsprachigen Raum zählt Alexander Kluge zu Lerners Fans und er hat auch das Vorwort zu den gesammelten Gedichten Lerners geschrieben, die jetzt unter dem Titel "No Art" erschienen sind.

Das Dunkel sammelt unsere leeren Flaschen, leert unsere Ascher. Meintest du "das könnte immer so weitergehen" im Guten? - So beginnt das erste Gedicht von Ben Lerners erstem Gedichtband "Die Lichtenberg Figuren".

Gedichte der Gewalt

Früh, nämlich schon mit 19, hat Lerner ihn zu schreiben begonnen, die 52 darin enthaltenen Gedichte spielen alle mit der traditionellen Form des Sonetts und hatten einen wenig lyrischen Auslöser.

"Eines der zentralen Motive dieser Gedichte ist die ungeheure Gewalt, die ich in meiner Geburtsstadt Topeka erlebt habe", so Ben Lerner, "eine maskuline, unmotivierte Gewalt, die zu Tragödien wie dem Amoklauf an der Columbine High geführt hat und die aus der Ausweglosigkeit resultiert, die in den amerikanischen Vorstädten herrscht."

Spiel mit Kombinationen

Topeka in Kansas hat Lerner schon vor langer Zeit den Rücken gekehrt. Heute lebt der 42-Jährige mit seiner Familie in New York und unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit Literatur am Brooklyn College.

Der Sammelband "No Art" vereint seine drei bisher erschienenen Gedichtbände. Neben den "Lichtenberg Figuren" sind das "Angle of Yaw", auf Deutsch "Scherwinkel", ein Begriff aus der Physik, und "Mean Free Path", übersetzt "Mittlerer freier Weg".

"In 'Mean Free Path', meinem dritten Lyrikband", so Ben Lerner, "können die Zeilen in unterschiedlicher Reihenfolge gelesen werden, was für eine jeweils andere Bedeutung sorgt. Dadurch ist das Gedicht kein abgeschlossenes Werk, sondern offen für die unterschiedlichen Kombinationen."

Ich habe einige Fragen
Aber die können warten. Warten ist die Antwort
Die ich suchte. Jedes Thema genügt
Solange es sich entfernt.
Der offene Roman

"Abschied von Atocha"

Der Lyrikband "Mean Free Path" erschien 2010, ein Jahr bevor Ben Lerner als Romancier debütierte. "Abschied von Atocha" hieß das Buch, benannt nach dem Madrider Bahnhof, in dem 2004 die verheerenden Bombenanschläge stattfanden. Der Ich-Erzähler war damals, genauso wie Lerner, als Stipendiat in der spanischen Hauptstadt, und beschreibt seinen Alltag als junger dichtender Bohemien.

"Der Roman wurde für mich zu einer Form", erzählt Ben Lerner, "in der ich sowohl meine Gedichte als auch Ausschnitte aus meinen Essays unterbringen konnte, neben der eigentlichen Erzählung, was auch immer das sein mag."

Die vielen Stimmen in uns

Mit dem Roman "22:04" setzte Ben Lerner sein autofiktionales Projekt fort. Der Ich-Erzähler lebt mittlerweile wie Lerner im Big Apple, und gleichermaßen mit seiner Karriere als Schriftsteller und seiner neuen Beziehung mit einer Künstlerin beschäftigt. Wieviel vom Autor steckt im Erzähler? Ein Wechselspiel sei das zwischen Realität und Fiktion, so Lerner, das ihn immer wieder aufs Neue fasziniere.

Doch zurück zum Gedichtband "No Art", denn trotz seiner Erfolge als Romancier sieht sich Ben Lerner noch immer vorrangig als Lyriker: "Mich stört es, dass viele Gegenwartsromane in einer einzigen durchgehenden Erzählstimme geschrieben sind, während viele Lyriker in ihren Gedichten mit dem Nebeneinander verschiedener Sprechweisen und Stimmen experimentieren. Das entspricht doch viel mehr der Realität eines Ichs, weil wir alle ganz viele Stimmen in uns vereinen."

Sammelsurium an Stilen

Stilistisch schlägt Lerner mit seinen Gedichten einen weiten Bogen, vom anfänglichen Spiel mit dem traditionellen Sonett bis zum Prosagedicht.

ÜBERALL IN AMERIKA, unter und über der Erde, in brennenden Häusern
und tiefen Brunnen, entführten Flugzeugen und eingestürzten Minen, benutzen die Leute ihre Handys nicht, um Hilfe zu rufen oder nach Luft oder Licht, sondern um herauszufinden, was eigentlich los ist.

Buchumschlag

SUHRKAMP VERLAG

Liebe statt Ironie

"No Art", der Name von Ben Lerners Lyrikband, ist auch der Name des zuletzt entstandenen Gedichts.

ich weiß, ich kann auf dich zählen,
bis du so real bist, dass ich mich
abwenden kann.


"'No Art' ist das letzte Gedicht im Buch", erzählt Lerner, "und es spricht sich dafür aus, dass Liebe und Emotionen in der Lyrik mehr Bedeutung haben sollen als avantgardistische Spielereien. Außerdem warnt es vor zu viel ironischer Distanz in Gedichten."

Unbekannte Abzweigungen

Poetik hat auch mit Architektur in den Köpfen zu tun. Zugleich geht es um
Straßenbau des Geistes.


Schreibt Alexander Kluge in seinem Vorwort zu Ben Lerners Gedichten. Kluge selbst hat Gedichtzeilen von Lerner als Ausgangspunkt für mehrere seiner Mikroerzählungen genommen. Und genau das sind Ben Lerners Gedichte auch, Autobahnabfahrten, die man noch nie genommen, oder Abzweigungen, die man bisher nicht wahrgenommen hat. Abenteuerliche Straßen, die erst im Fahren, respektive im Lesen, entstehen.

Service

Ben Lerner, "No Art", gesammelte Gedichte, englisch und deutsch, aus dem amerikanischen Englisch von Steffen Popp in Zusammenarbeit mit Monika Rinck, mit einem Vorwort von Alexander Kluge, Suhrkamp

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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