Ulrike Edschmid

SUHRKAMP VERLAG/SEBASTIAN EDSCHMID

Zwischen Gewalt und Geheimnis

Die Romane Ulrike Edschmids

Über ihre Beziehung zu einem späteren Terroristen hat Ulrike Edschmid in "Das Verschwinden des Philip S." geschrieben, jetzt ist ihr neuer Roman "Levys Testament" erschienen. In dem erzählt die achtzigjährige Edschmid die unglaubliche Familiengeschichte des Theatermachers Brian Michaels, mit dem sie in den 1970er Jahren liiert war und mit dem sie bis heute eine enge Freundschaft verbindet.

"Ich möchte nichts erfinden", hat die deutsche Schriftstellerin Ulrike Edschmid einmal in einem Interview gesagt und so bewegen sich ihre Romane haarscharf an der Wirklichkeit entlang. An einer Wirklichkeit, die eindringlicher kaum sein könnte, denn es sind tragische Einschnitte, die ihre Biografie bestimmen.

So war Edschmids zeitweiser Lebensgefährte der später in den Untergrund abgetauchte und 1975 von der Polizei erschossene Terrorist Werner Sauber. Über ihn schrieb sie in ihrem Roman "Das Verschwinden des Philip S.", mit dem ihr 2013 der literarische Durchbruch gelang. Und über den tragischen Unfall ihres Mannes berichtete sie in "Ein Mann, der fällt".

Festwochen-Regisseur als Romanfigur

In ihrem Roman "Levys Testament" nennt ihn Ulrike Edschmid nur den "Engländer", den Mann, in den sie sich auf einer Londonreise verliebt, und der ihr später nach Deutschland folgen wird. Wer recherchiert, stößt auf den Regisseur Brian Michaels, der nach Anfängen mit einer Laientheatergruppe seine Inszenierungen von Hamburg bis New York und von den Wiener Festwochen bis zum steirischen herbst zeigte.

Über seine Bühnenarbeit erfährt man in Ulrike Edschmids Roman "Levys Testament" auch einiges, im Zentrum steht jedoch die Familiengeschichte des Engländers, die lange Zeit im Dunkeln lag. "Eines Tages bekam er einen Anruf und was er da erfuhr, davon hatte er keine Ahnung", erzählt Ulrike Edschmid.

Ausschnitt des Buchcovers, Landkarte

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Der Ausgestoßene

Es war der Anruf einer dem Engländer unbekannten Cousine, der ihm Einblick in die tragischen Ereignisse vor knapp hundert Jahren gab: Ein von seinem Großvater vermasselter Versicherungsbetrug hatte dafür gesorgt, dass er von seiner Verwandtschaft aus dem Familiengedächtnis gestrichen wurde.

Bei seinen Recherchen stieß der Engländer auf immer wieder neue Erkenntnisse, und Edschmid zeichnet diese detektivische Spürarbeit in einer Unmittelbarkeit nach, die den Leser kaum Atem holen lässt. Diese Rasanz bestimmt den Roman "Levys Testament" gleich von der ersten Seite an und hat auch Edschmid selbst überrascht: "Es hat mich einfach in diesen Stil hineingetrieben. Wenn ich mir die Geschichte vorgestellt habe, war sofort dieses Tempo da."

Die Wahrheit ist fragmentarisch

Alles hat sich auf diese oder jene Weise ereignet, jedoch sind keine Person und kein Geschehnis mit der Wirklichkeit gleichzusetzen, schreibt Ulrike Edschmid in einer kurzen Nachbemerkung zu ihrem Roman. Kurz sind auch die Kapitel des Buches und sie werden zusätzlich noch in Absätze gegliedert.

Präzise geschliffene, und oft auch telegrammstilkurze Sätze sorgen für intensive Momentaufnahmen, dieser prägnante Stil ist gleichzeitig Philosophie. "Ich merke immer wieder, dass mehr Wahrheit im Fragment liegt als in einer detailorientierten Ausarbeitung", sagt Ulrike Edschmid. "Ich möchte etwas sichtbar machen und nicht erklären - vielleicht liegt es daran."

Das Ich am Rand

Ulrike Edschmid erzählt ihre Romane immer aus der Perspektive einer namenlos bleibenden Ich-Erzählerin. Dennoch passen ihre Bücher nicht ins derzeit so angesagte Genre der Autofiktion, weil es ihr nicht um das Spiel mit der Identität des Erzähler-Ichs geht.

Was ist dann die Rolle ihrer Ich-Erzählerin? "Die habe ich für mich ziemlich klar definiert", so Ulrike Edschmid. "Ich bin immer die Beobachterin und nicht das Zentrum meiner Bücher."

Buchumschlag

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Frauen von Schriftstellern, Frauen mit Waffe

Sich im Schreiben selbst zu betrachten und zu analysieren, habe sie zwar auch einmal versucht, so Edschmid, sei dabei aber auf keinen grünen Zweig gekommen. Die richtige Perspektive für ihre Romane fand sie dann erst auf dem Umweg über die dokumentarischen Texte, die am Beginn ihrer schriftstellerischen Laufbahn standen.

"Ich habe ein Buch über Schriftstellerfrauen gemacht, und eines über politische Täterinnen mit dem Titel 'Frau mit Waffe'", erzählt Ulrike Edschmid, "und dabei merkte ich, dass ich mich selber in der Betrachtung einer anderen Person genauer reflektieren konnte."

Dem Ereignis verpflichtet

Das Verfahren hat sie auch in ihrem Roman "Das Verschwinden des Philip S." angewandt. Hinter dem verbirgt sich der Schweizer Filmemacher Werner Sauber, mit dem Ulrike Edschmid mehrere Jahre lang liiert war, bevor er sich der Terrororganisation "Bewegung 2. Juni" anschloss und in den Untergrund ging.

Um darüber schreiben zu können, brauchte es aber eine ausreichende zeitliche Distanz, so Edschmid: "Ich glaube mindestens eine Generation, damit die Ereignisse so weit Geschichte geworden sind, dass man sich nicht mehr so der Zeit verpflichtet fühlt, sondern nur dem Ereignis und der Person, die in dieses Ereignis verstrickt ist."

Tagebuch versus Erinnerung

Am Beginn des Romans stand ein Foto, aufgenommen am 9. Mai 1975 auf einem Parkplatz in Köln. Es zeigt den am Boden liegenden Werner Sauber, der gerade einen Polizisten erschossen hatte und selbst von mehreren Kugeln getroffen im Sterben lag. "Es war ein Zeitungsbild", erzählt Ulrike Edschmid, "und in dem fand ich die Spuren unseres gemeinsamen Lebens. Ich erkannte seinen Gürtel wieder, einen Gürtel, den auch ich einmal auf einem Foto getragen hatte, und auf einmal sah ich wieder alles vor mir."

Sie sei ein Mensch, sagt Ulrike Edschmid, der in Betrachtung versinken kann. Und der, lässt sich hinzufügen, ganz offensichtlich über ein stupendes Erinnerungsvermögen verfügt. "Ich habe Tagebuch geführt damals", so Edschmid“, "besitze aber auch eine ziemlich gute Erinnerung. Ich konnte also nachschlagen, habe das aber eigentlich gar nicht getan. Weil die in der damaligen Zeit entstandenen Tagebücher etwas völlig anderes sind als die Erinnerung an die Zeit."

Keine Strategin

Ulrike Edschmids Romane sind dünn, kaum mehr als 150 Seiten stark, haben den Leser aber vom ersten bis zum letzten Satz fest im Griff. Wahrscheinlich, weil sie in ihrem Schreiben selbst eine Suchende ist. Sie sei keine Strategin, sagt Edschmid dann auch, was sie da gemacht habe, erschließe sich auch ihr selbst oft erst nach Beendigung eines Romans. "Es gibt Schriftsteller, die ihre Bücher sehr genau planen", so Edschmid, "ich kann das nicht. Ich schreibe auch immer in kleinen Intervallen. Ich bin nicht jemand, der drei oder fünf Seiten am Tag schreibt, wenn mir das in einer Woche gelingt, dann habe ich viel geschafft."

Viel geschafft und Bedeutendes geschaffen, hat Ulrike Edschmid mit ihren Büchern. Dass ihr noch keine größere Bekanntheit zugekommen ist, gehört zu den großen Rätseln des Literaturbetriebs. Aber das lässt sich ja zum Glück ändern. Am 24. August werden die Nominierten für den Deutschen Buchpreis bekanntgegeben. Ein Wiedersehen mit "Levys Testament" wäre da mehr als angebracht.

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Suhrkamp - Ulrike Edschmid

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  • Wolfgang Popp

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