Kopfhörer und eine Muschel.

ORF

musikprotokoll 2021

Mittendrin im Zwischendrin

Nomadisches Suchen nach dem Dazwischen beim ORF musikprotokoll 2021 in Graz. Auch in seiner 54. Ausgabe transformiert und erweitert das ORF musikprotokoll mit nomadic sounds die Grenzen des Erlebens von Musik.

Ein Nomadenleben, ein weltweites, kann man jenem Klangphänomen zuschreiben, das auf den Namen "Mikrotonalität" hört: Ein erstaunlich sperriger Begriff dafür, dass letztlich jede Musik im Detail mikrotonal klingt. Von Indien bis Arabien, von Europa bis in die USA …

Schneckenhäuser als Kopfhörer

musikprotokoll.ORF.at
7.-10.10.2021

Aber ja, es stimmt schon, in genau den Jahrzehnten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in denen in Mitteleuropa die Komposition "mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen" en vogue war, suchten andere nach mehr als nur zwölf. Die "Halbtöne" wurden weiter geteilt, in Dritteltöne, Vierteltöne, Sechsteltöne, schlussendlich in ein Spiel mit der gesamten Obertonreihe bis hinein ins Geräuschhafte.

nomadic sounds. ORF musikprotokoll im steirischen herbst

Das ORF musikprotokoll transformiert und erweitert auch in seiner 54. Ausgabe mit nomadic sounds die Grenzen des Erlebens von Musik. Das Festival ist Bühne und Labor einer neuen Generation von Musiker/innen und Komponist/innen, deren Arbeit sich im Verständnis von offenen Genregrenzen trifft und daraus ihre ästhetischen Strategien bezieht. In mehr als dreißig Ur- und österreichischen Erstaufführungen begeben sich Komponist/innen und Interpret/innen auf die nomadische Suche nach einem Dazwischen.

Der Konzertsaal fungiert als Labor und Bühne für eine große Bandbreite an künstlerischen Verfahren, die das Interesse an Zwischenzuständen und Möglichkeitsräumen eint: Aus Klangfragmenten des Grazer Stadtraums entstehen 3-D-Klanglandschaften. Ein Ensemble spielt mit animierten Partituren, die in Echtzeit entstehen. Es kommt zur Wiederauferstehung des Sechsteltonharmoniums des Komponisten Alois Hába. Ein junges Streichquartett reist mit uns durch musikalisch (re-)konstruierte Räume aus Aserbaidschan, dem Libanon und der Ukraine. Ein Aquarium wird zum Instrument und zur Unterwasserbühne. Mit Drone-Music und mikrotonalen Kompositionen werden musikalische Zwischenräume minutiös erforscht. Klangobjekte können liegend auf Rollbrettern erkundet werden. Musiker/innen des SHAPE-Netzwerkes (Sound, Heterogeneous Art and Performance in Europe) loten die Grenzen des räumlichen Komponierens im Grazer Dom im Berg aus.

Über Jahre hat dieses internationale Netzwerk von Musikfestivals die Programme des musikprotokoll mitgeprägt: Finanziell unterstützt von der EU ist durch SHAPE ein reger Austausch junger Talente in Gang gekommen, der sowohl den Künstler/innen als auch den Festivals hilft. Vielleicht das Schönste am Projekt SHAPE ist, dass viele der vorgestellten Talente sich als so qualitätsvoll herausstellen, dass sie sich oft Jahre später und dann ganz ohne diese spezielle Form der Förderung in den Festivalprogrammen wiederfinden. Auch heuer findet man im musikprotokoll-Programm wieder Gäste aus der SHAPE-Maschine, am geballtesten gleich am eröffnenden Donnerstagabend.

Nationale und internationale Spitzenensembles, von denen viele heuer erstmals zu Gast sind, interpretieren diese neue Musik. Umrahmt wird diese musikprotokoll-Ausgabe von Lectures und Diskussionen vor Ort. Dokumentiert wird sie in zahlreichen Ö1-Sendungen und einem besonderen audiovisuellen Dynamic-Streaming.

Sechstelton-Harmonium unterwegs

Ein Hotspot zu Beginn dieser Entwicklung war Prag, insbesondere der Komponist Alois Hába war federführend beteiligt. Seit den 1920er Jahren arbeitete Hába an mikrotonal gestimmten Instrumenten, schlussendlich entstand jenes faszinierende Sechstelton-Harmonium, mit dem das nomadische Leben eines musikprotokoll-Konzertes korrespondiert.

Der aus dem Iran stammende Musiker Arash Yazdani arbeitet in Tallinn mit jenem Ensemble, das mit dem legendären Instrument aus Prag auf Reisen geht, diesmal nach Graz. Mit dabei ist selbstverständlich jener Musiker, der als Einziger dieses Instrument heute beherrscht, Miroslav Beinhauer.

Mikrotonale Auftragswerke

Aus dem Umfeld der New Yorker Columbia University stamen junge Komponistinnen, die unter dem Einfluss des dort lehrenden österreichischen Komponisten Georg Friedrich Haas ein besonderes Sensorium für mikrotonale Klangstrukturen entwickelt haben. Nina Fukuoka und Anna-Louise Walton schreiben im Auftrag des musikprotokolls ebenso neue Werke wie Georg Friedrich Haas selbst.

Auch Klaus Lang und Ensembleleiter Arash Yazdani steuern Stücke für Sechstelton-Harmonium und Ensemble bei. Und hier schließt sich auch ein musikprotokoll-Kreis: 1988 gestaltete Haas als Kurator ein mikrotonales musikprotokoll-Festivalprogramm, das damals kritisch beäugt wurde und heute als visionär erkannt wird.

Erkundungen im Unbekannten

Die nomadische Suche nach einem künstlerisch-ästhetischen "Dazwischen" hat beim musikprotokoll eine viele Jahrzehnte währende Tradition, von den semi-improvisatorischen Fabrikhallenkonzerten der frühen 1970er Jahre bis zu den multimedialen, digital immersiven Projekten der vergangenen Jahre.

Mit Auftritten des Ensembles dissonArt aus Thessaloniki und des Ensemble for New Music Tallinn, mit dem konzeptionell wagemutigen London Contemporary Orchestra, dem ukrainischen Danapris String Quartet, das schon 2019 das Grazer musikprotokoll-Publikum begeisterte, den österreichischen Formationen Black Page Orchestra und Ensemble Zeitfluss führen die nomadischen Erkundungen in unbekanntes Terrain.

Debütierende Ikone

Bei allem Wagemut und aller Neugier auf Neues seien last, but not least zwei Klangkünstler/innen erwähnt, die nicht das erste Mal beim musikprotokoll zu Gast sind: Die britische Komponistin Natasha Barrett wird uns ein weiteres Mal in ihre dreidimensionalen Klanglandschaften entführen, und Phill Niblock, die 87-jährige Ikone dichtester Klangballungen, wird mit zwei Stücken vertreten sein, auch wenn seine persönliche Anwesenheit heuer leider unmöglich ist. Mikrotonal die Ohren öffnen werden seine Werke - eines für Live-Ensemble, das andere für die Lautsprecheranlage im Dom im Berg - trotzdem.

Wie jedes Jahr beim ORF musikprotokoll werden alle Konzerte aufgenommen und in Ö1, vor allem in der Reihe "Zeit-Ton", gesendet. Darüber hinaus bietet das musikprotokoll auch heuer wieder einen Monat lang ein via Computer und Kopfhörer nachvollziehbares, gewissermaßen dreidimensionales "Dynamic Streaming" an.

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steiermark.ORF.at

Gestaltung

  • Christian Scheib

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