Laszlo Krasznahorkai

NINA SUBIN

Sprachkunstwerk von László Krasznahorkai

"Herscht 07769"

Ein einziger Satz, der sich über 400 Seiten zieht - ein Roman-Marathon, wie es ihn wohl noch kaum gegeben hat.

Direkte Rede ist eingeschmolzen in diesen atemlosen Textstrom, was an wenigen Stellen ein Frage- oder ein Rufzeichen geriert, doch der einzige Satz, der sich bis zur letzten Seite spannt, geht weiter und wird auch nicht unterbrochen durch die dreizehn "Spruchbänder", die am Ende des Buches als solche ausgewiesen werden: Wortgruppen, die wie Überschriften mitten in dem einen Satz zu stehen kommen, aber von diesem umspielt werden.

László Krasznahorkai ist seit seinem Debütroman "Satanstango", der durch die Verfilmung von Béla Tarr weltweit bekannt wurde, ein radikaler Autor, der der Hoffnungslosigkeit ins Auge blickt und über ihrem Abgrund ein dichtes Netz schier endloser Sätze aufspannt. "Mit der Zeit wurden die Sätze immer länger, mit einer sehr festen Konstruktion natürlich, aber ungewöhnlich lang, weil ja auch unser Denken ein endloser stürmischer Prozess ist und keine Punkte kennt", sagte er selbst einmal. In seinem neuen Roman "Herscht 07769" hat er genau das konsequent und kompromisslos realisiert.

Angela soll die Welt retten

Doch was hat es mit dem rätselhaften Titel auf sich? Herscht, Florian Herscht, ist die Hauptperson des Romans, und 07769 ist die Postleitzahl des imaginären Dorfes Kana in Thüringen, von dem aus Herscht seine Briefe an Bundeskanzlerin Angela Merkel schreibt. Herscht ist ein wenig gebildeter junger Mann, ein gelernter Bäcker, ein Hartz-IV-Bezieher, der schwarz in einer Gebäudereinigungsfirma arbeitet, aber in seiner Freizeit Volkshochschul-Vorträge über "die wunderbare Welt der Quanten" gehört hat. Was er da über Materie und Antimaterie zu hören bekam, hat ihn in Panik gestürzt, er hält die Welt für bedroht und schreibt deshalb an Angela Merkel, die als gelernte Physikerin ja wissen muss, was zu tun ist und den Sicherheitsrat mit dieser Gefahr beschäftigen soll.

Die Hoffnung ist ein Fehler

Florian Herscht ist ein naiver und gutgläubiger Mensch, ein "guter Junge", wie er bezeichnet wird, der seine Jugend in einem Heim verbracht hat, aus dem er vom "Boss", so wird der Gebäudereiniger von allen genannt, als billiger Schwarzarbeiter geholt wurde. In einem öden siebenstöckigen Plattenbau hat der Boss ihm eine Wohnung verschafft, und Herscht ist ihm dankbar wie einem Vater, er kann es nicht fassen, dass er jetzt zum ersten Mal eine eigene Wohnung hat und ein paar Dinge, die ihm gehören. Allerdings ist dieser Boss, der ihn ausbeutet und erniedrigt, der Kopf der Neonazis von Kana - durchtrainiert, tätowiert und mit einem Kampfhund ausgestattet, gibt er einen richtigen Bilderbuch-Neonazi ab.

Bach als Gegenpol

Aus diesem Klischee fällt er nur durch seine Verehrung für Johann Sebastian Bach heraus. Der Boss hat die Kanaer Symphoniker gegründet, eine Band, die bisher Evergreens gespielt hat und nun in grotesken Proben auf Bach getrimmt werde soll und naturgemäß - hier könnte tatsächlich Thomas Bernhard Pate gestanden sein - an jedem Stück scheitert. Der Boss zwingt auch Florian Herscht hinein in seine Bach-Verehrung, und siehe da, auf einmal springt der Funke über, Herscht entdeckt Bach für sich, lädt Bach-Musik auf seinen Laptop herunter und will nur noch Bach hören. Und die Roman-Passagen über Bach werden zu einem Gegenpol zu dem Motto, das den Roman eröffnet und prägt: "Die Hoffnung ist ein Fehler".

Die Hoffnungslosigkeit wird konterkariert durch eine atemlos wie von selbst dahinfließende Sprache

Hoffnung lässt sich tatsächlich kaum ausmachen in diesem detailgenau und mit authentischen Figuren ausgestatteten thüringischen Provinznest des Romans, in dem es, seit die Porzellanfabrik nach der Wende geschlossen hat, keine Arbeit mehr gibt und fast nur noch Hartz-IV-Bezieher und alte Leute leben. Langsam fasst Florian Herscht hier Wurzeln: Frau Ringer, die Bibliothekarin, wird seine Vertraute, in seinem Hochhaus lernt er einen alten Mann, den Vertreter, kennen, und im Grillhäusel der aus Siebenbürgen stammenden Ilona gehört er zur Runde der Stammgäste. Vor allem aber bindet er sich eng an Herrn Köhler, an jenen Mann, von dem er die physikalischen Vorträge über die Quanten und das Weltall gehört hat.

Gelber Buchcover mit schwarzem Schrirftzug: László Krasznahorkai "Herscht 07769"

S. FISCHER VERLAGE

Hochaktueller Deutschland-Roman

Doch auf einmal verschwindet Herr Köhler, und Florian Herscht verstrickt sich immer mehr in seine Spekulationen und Ängste. Das Dorf Kana gerät aus den Fugen, und in der Umgebung kommt es zu Anschlägen. Als auch noch rätselhafte Wolfsrudel auftreten, verbreitet sich Panik. Und auf einmal fliegt die ARAL-Tankstelle in Kana in die Luft. Wozu das führt, sei hier nicht verraten, denn die Handlungsführung des Romans "Herscht 07769" setzt durchaus auch auf Spannung, die nicht vor der Lektüre aufgelöst werden darf.

Sicher ist: László Krasznahorkai hat als Ungar, der lange in Berlin lebte, einen hochaktuellen Deutschland-Roman geschrieben, der durch seinen Blick auf soziologische, politische und psychologische Zusammenhänge ebenso besticht wie durch breit ausgeführte sinnliche Details des Alltagslebens. Einer der Höhepunkte ist die groteske Konfrontation von Neonazis mit einem rabiaten Antifaschisten: Während Bach für den Boss die Verkörperung Thüringens und des deutschen Geistes ist und er daher mit seiner Truppe auf den Graffiti-Sprayer an Bach-Gedenkorten Jagd macht, verdächtigt ihn Herr Ringer, diese Graffitis selbst angebracht zu haben.

Grandioses Sprachkunstwerk

Gleichzeitig ist "Herscht 07769" ein Roman über die menschliche Existenz und über den Zustand der Welt. Der naive Florian Herscht stürzt mit allen Fasern seiner ungesicherten Existenz in den Taumel, in den ein Mensch geraten kann, dem zum ersten Mal aufgeht, dass - mit Kant gesagt - Raum und Zeit nur Kategorien menschlicher Erkenntnis sind, aber nicht unabhängig davon existieren; und dass eine exakte Wissenschaft wie die Physik mehr Fragen stellt als sie zu beantworten vermag.

Vor allem aber ist "Herscht 07769" ein grandioses Sprachkunstwerk, mit dem László Krasznahorkai erneut seinen Rang als einer der eigenständigsten und vielschichtigsten europäischen Schriftsteller bewiesen hat. Dass man das auch in der deutschen Sprache nachvollziehen kann, ist Heike Flemming zu verdanken, die damit eine der genialsten Übersetzungsleistungen der letzten Jahre vollbracht hat. Der musikalische Fluss der Sprache, die Mäander aus Erzählung, Gedanken und Rede, kommen nie ins Stocken, kein falsches Wort, kein falscher Ton schleicht sich ein. Die Hoffnungslosigkeit wird konterkariert durch eine atemlos wie von selbst dahinfließende Sprache, die einen von Anfang an in Bann zieht und durch den Roman führt. Ein Lesemarathon, der sich gelohnt hat und unvergesslich bleibt.

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