
APA/DPA/ARNE DEDERT
Roman von Nino Haratischwili
"Das mangelnde Licht"
Dass die georgisch-deutsche Schriftstellerin Nino Haratischwili ein Faible für große Geschichten hat, ist spätestens seit ihrem 1.300 Seiten starken Erfolgsroman "Das achte Leben" bekannt. Ihr neuer Roman "Das mangelnde Licht" ist mit 830 Seiten abermals kein Leichtgewicht. Die Handlung führt ins Georgien der 1990er Jahre, als nach der Wende Anarchie, Militärputsch und Korruption herrschten und der Abchasien-Krieg sowie das erstmals im großen Stil gehandelte Heroin unzählige Existenzen zerstörten.
2. April 2022, 02:00
Eine Fotoausstellung ihrer toten Freundin Dina in Brüssel konfrontiert die Ich-Erzählerin Keto nach Jahren wieder mit ihren georgischen Freundinnen und mit der gemeinsamen Vergangenheit im Georgien der 90er Jahre - zwischen Putsch, Krieg, Drogenkriminalität und Hunger. Ihr Blick wandert entlang der Ausstellungswände und verharrt immer wieder bei einzelnen Fotos, nicht wenige davon zeigen sie selbst als Mädchen und junge Frau.
Manche Erinnerungen brechen über Keto herein wie Überschwemmungen, andere müssen mühsam rekonstruiert oder sich mit aller Kraft vom Leib gehalten werden, weil sie zu schwer erträglich scheinen.
Wie man dem Grauen begegnet
Die Erinnerungen sind auch ihre eigenen, selbst wenn sie rund zehn Jahre jünger ist als ihre Protagonistinnen, erzählt Nino Haratischwili, die das Geschehen von damals rund um vier unterschiedliche Charaktere und Temperamente ansiedelt. Die introvertierte Keto kommt dem Anblick des Todes mit Selbstverletzung bei, die romantische Nene, deren Onkel und Bruder jahrelang Schutzgelder eintrieben, Waffen- und Heroingeschäfte führten und sie zu Hause wie in einem goldenen Käfig hielten, hat stets einen Fluchtweg parat - und sei es nur in der Fantasie.
Die unerschrockene, leidenschaftliche Fotografin Dina macht ihre Bilder des Grauens zu stummen Zeugen eines Systems, das ausgerechnet Ira, die vierte Freundin, Jahre später als Staatsanwältin aushebeln und damit auch das Freundschaftsgefüge zum Einsturz bringen wird.

FRANKFURTER VERLAGSANSTALT
Literarisches Flechtkunstwerk
Von diesen Gegensätzen lebt der Roman ebenso wie von den vielen plastischen Nebenfiguren mit ihren ausschweifenden Lebensgeschichten, die allesamt dem reichen Erfahrungs- und Beobachtungsschatz der Autorin entsprungen sind. So stehen von Anfang an die alltäglichen Auswirkungen der großen Geschehnisse auf die kleinen zwischenmenschlichen Gefüge im Hinterhof und in der Nachbarschaft im Zentrum.
Haratischwili verflicht mit dem Ausstellungsrundgang Gegenwart und Vergangenheit und balanciert dazwischen oft nur einen abgebrochenen Satz. Es ist der Rückblick auf ein zerrüttetes System, auf verlogene Wertvorstellungen und einen ebenso brutalen wie fatalen Ehrenkodex, dem Keto und ihre Freundinnen ausgeliefert waren. Die Männer im Roman als reine Täter zu sehen, sei allerdings zu kurz gegriffen, meint Haratischwili: "Auch sie waren Opfer eines Systems, das heute zum Glück völlig anders ist."
Fulminant und mitreißend
Knapp 30 Jahre später sei die Zivilgesellschaft stärker und aufgeschlossener, so die Autorin. Ihr eigener Blick zurück habe viele neue Erkenntnisse und eine gewisse Beruhigung gebracht: "Ich habe meinen Frieden damit gefunden, und ich muss sagen, wir alle, die das erlebt haben, verfügen über eine wahnsinnig starke Resilienz. Da muss schon etwas Großes, Schwerwiegendes daherkommen, damit es mich umhaut."
Diese Einsicht verfestigt sich auch nach den knapp 830 rasanten Romanseiten. "Das mangelnde Licht" pendelt zwischen politischem Thriller, Krimi, Mädchenroman und akribischer Gesellschaftsstudie und vereint am Ende all diese Genres zu einem fulminanten Leseerlebnis.
Service
Nino Haratischwili, "Das mangelnde Licht", FVA