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Neues Album
Der fantastische Poet: Peter Doherty
Jahrelang war er der Skandalrocker schlechthin, der englische Musiker Peter Doherty. Doherty war Mitte der 2000er an der Seite von Supermodel Kate Moss berühmt wie berüchtigt, der wohl bekannteste Junkie der Musikwelt. Mit seinen Bands The Libertines und Babyshambles sorgte er für Chaos, Begeisterung und Charterfolge. Dohertys Sucht ließ ihn aber auch verlässlich in Fettnäpfchen treten. Seine Musik verstummte hinter der Figur aus der Klatschpresse. Nun erscheint "The Fantasy Life of Poetry & Crime" - das neue Album, das der mittlerweile zum Peter gereifte Doherty nicht nur in Frankreich, sondern auch mit einem französischen Musiker aufgenommen hat.
18. April 2022, 02:00
Damals, als Boris Johnson noch vom Amt des Londoner Bürgermeisters träumt und Wladimir Putin von sich aus zu einem "St. Petersburger Dialog" zum Thema "Russland in Europa" lädt, ist Pete Doherty das skandalöse Enfant Terrible des britischen Pop. Der bekannteste Junkie der Insel, der aus der englischen Rose Kate Moss ein Groupie machte.
Nach außen erfüllt Pete Doherty die Meisterprüfung seines gewählten Berufszweiges mit Auszeichnung. Er ist der vorlaute, respektlose und exzessive Hoffnungsträger eines stagnierenden Rock and Roll.

Frédéric Lo und Peter Doherty
NICOLAS DESPIS
Pop-Rimbaud
Mitte der 2000er Jahre trägt Daniel Craig erstmals den feinen Zwirn im Auftrag Ihrer Majestät. In den Charts regiert großer Pop von Christina Aguilera und kuscheliger amerikanischer R’n’B von R. Kelly. Peter Doherty schlägt als fröhlich-destruktiver Pop-Rimbaud auf.
Ein Cover der Sonntagsausgabe der Londoner Sunday Times inszeniert ihn als blassen seriösen Dandy, gleichzeitig Ikone des Heroin Chic, der damals die Musik und Modeszene begeistert, und It-Boy zwischen Berlin, London und Paris. Seine von der Crackpfeife angeschwärzten Fingern werden ein Kürzel für den Junkie-Rocker.
Vagabund schon als Kind
Doherty stammt aus gutem Elternhaus. Geboren wird er in Hexham in Northumberland. Vater Peter John Doherty war Major bei den Royal Signals, einer Sondereinrichtung der British Army, die für die Kommunikation der Armee verantwortlich ist. Mutter Jacqueline Michels arbeitete in einem Krankenhaus. Schwester Amy-Jo war schon da, als Peter Doherty am 12. März 1979 geboren wird. Als drittes Kind komplettiert die in Irland geborene Emily die Familie. Peter Doherty wächst auf Militärbasen zwischen Großbritannien, Deutschland, Irland und Zypern auf. Mit elf spielt er Fußball, feuert sein Team Queens Park Rangers an und lernt Gitarre spielen.
In seinen Anfangstagen in London trug Doherty bei Veranstaltungen Gedichte vor. Seine Song-Texte waren und sind teils naive Träumereien, kindlich in ihren Bildern; tagebuchartig, als schlüpfe er in Dostojewskis Haut. "Aufzeichnungen aus dem Untergrund des East End." Bilder seiner Wohnung aus dieser Zeit dokumentieren eine triste Existenz.
"Wir übernehmen gerade ein bisschen das Haus meiner Schwiegereltern"
Projektionsfläche
Mit den Jahren wandelt sich Doherty, wird körperlich und musikalisch runder. Einmal Poet, dann Crack-Zombie mit Feuerzeug zwischen den Zähnen. Mitte der 2000er die perfekte Projektionsfläche – bei Konzerten in England grölt die Menge wie bei Fußballspielen den Namen ihres top strikers:
Pete! Pete! Pete! You fucking legend!
Peter Doherty an einer Weggabelung
Doherty steht auch an einer kulturellen Bruchstelle. Die Jahre seiner größten Popularität sind die Jahre des Übergangs von einem analogen in ein digitales Musikzeitalter. Ersteres mit gepflegten Traditionen, etablierter Industrie und kultureller Praxis. Letzteres ein radikaler Einschnitt. 2004 gibt es keine Smart Phones bei Konzerten der Babyshambles. Pete Doherty funktioniert analog und digital. Schon die Libertines waren Pioniere darin, Konzerte kurzfristig online bekannt zu geben. Online-Foren werden genutzt, um Infos, Gossip und Demos zu tauschen.
"Gibt es das Flex noch?"
Alles, was eine gute Sekte braucht
Die Mythologie der Libertines hat von Anfang an alles, was ein Gründungsepos braucht. Die sepia-getönte Geschichte rund um das gute Schiff "Albion", das die zusammengewürfelte Bande aufnehmen und ins gelobte Land "Arcadia" führen möge, und dazu gleich zwei Kapitäne. Der Weg von Doherty und seinem Ko-Steuermann, Carl Barat, sollte von Stromschnellen und Untiefen gesäumt, das Abenteuer hastig erst zur Tragödie und dann zur Farce umgedichtet werden. Doherty und Barat entfremden sich und schreiben ein Lied darüber. Finden sich wieder, schreiben wieder ein Lied darüber und veröffentlichen zur Krönung wie zur vorläufigen Trennung der Band, das zweite und erfolgreichste Album - "The Libertines".

Im Paradies namens "Arcadia"
Als das Album 2004 erscheint, durfte man sich "Arcadia" als eine Londoner East End Ausgabe von Michael Jacksons Neverland Ranch ausmalen. Heute existiert eine online buchbare Version davon als Hotel "Albion Rooms" im englischen Küstenörtchen Margate. Dort hat die Band in ein Hotel investiert. Dohertys Aufenthalt in Margate vor seinem bislang letzten Entzug Ende 2019, beeinflusst mehrere der neuen Songs.
"You see these two cold fingers?”
2002 waren er und die Libertines die Antwort Englands auf New York City. Ein Echo der "Yanks, go home!" Schlagzeilen der anbrechenden Britpop-Jahre in den 1990ern. Zehn Jahre danach zieren die vier Libertines engelhaft und in den Union Jack gehüllt das Cover des Londoner NME. "You see these two cold fingers?” fragt die Band auf ihrem ersten Album? Die Libertines spielten mit ihrer Englishness. Churchill wird hier ebenso zitiert wie Jarvis Cocker, dessen "two cold fingers" in Richtung Michael Jackson symbolisch auch Amerika vom Musikthron stießen. Eine mögliche Erklärung für den Ursprung des Sprachbildes verweist auf die Geste eines Kriegers. Der braucht eben zumindest zwei Finger, um einen Speer nehmen, spannen und abschießen zu können.
Reunion der Babyshambles?
Dohertys Vergangenheit, seine Skandale, die Beziehung zu Kate Moss, die Gefängnisaufenthalte scheint zwar kein Schatten, aber auch nie weit weg zu sein. Mit den Libertines ist Doherty aktuell wieder auf Tournee. Zum 20 Jahre Jubiläum des Debüts "Up The Bracket" gastiert die Band am 7. NOvember 2022 im Wiener Gasometer.
Auch über eine Reunion der Babyshambles werde gesprochen, sagt Doherty. 2013 veröffentlichte die Band ihr bislang letztes Album "Sequel tot he Prequel", ein Top 10 Chart-Erfolg in Großbritannien. Nach einzelnen Festival-Slots im Sommer 2014 ist die Bandgeschichte allerdings vorbei, vorerst. Doherty selbst zeigt sich unschlüssig. "Keine Ahnung, könnte gut sein. Wenn, dann wären jedenfalls Mik UND Pat dabei", meint er. Mik und Pat, das sind Pat Walden (der auf dem Debütalbum "Down in Albion" Gitarre spielt) und Mik Whitnal (der ab "Shotter’s Nation" übernimmt). Der frühere Bassist Drew McConnell, aktuell in Liam Gallaghers Band aktiv, soll laut Doherty wieder dabei sein.
Mehr Glasur hatte Doherty noch nie
Auf den neuen Songs, die währen des Lockdowns entstanden sind, schwelgt Doherty in seinen Geschichten. Mehr süße Glasur hatte seine Musik noch nie. Im Titelstück verneigt er sich vor Maurice Leblanc, dem Erfinder von Arsene Lupin.
"Ich habe unlängst Pat getroffen"
The Epidemiologist" wiederum ist eine typische Doherty Nummer: Hingerotzte Zweizeiler, rasende Gedankenströme. Andererseits ist "The Epidemiologist" ein zeitlos eleganter Popsong, exquisit verpackt von Frederick Lo, dessen Arrangements Dohertys Stimme weich betten.
Der Song "The Ballad Of." lässt seinen titelgebenden Protagonisten bewusst im Dunklen. Laut Doherty geht es um eine seiner Kunstfiguren, Ed Belly. Ein Typ, der eigentlich nur Musik machen will, den die Verlockungen des Lebens allerdings verlässlich vom Pfad der Tugend abkommen lassen. Klingt vertraut.