Buch und Linolschnitt

ORF/ANNA SOUCEK

100 Karten mit Prosaminiaturen

"Mein Handatlas" von Arnold Mario Dall’O

Eine Ausgabe des Stieler Hand-Atlas von 1906 hat der Südtiroler Künstler und Buchgestalter Arnold Mario Dall’O als Anregung für verschiedene Geschichten zu verschiedenen Orten auf der Welt genommen: Jede der 100 Karten hat er mit einem Linolschnitt versehen und dazu unterhaltende, lehrreiche Prosaminiaturen verfasst. Leichtfüßig ordnet Dall'O mit dem im Folio Verlag erschienenen "Hand-Atlas" die Welt, wie er sie sich erklärt und reiht Fußnoten der Kulturgeschichte neben welthistorische Ereignisse, Geschichten mit Skurrilitätswert neben Momente mit Explosionskraft.

Das Buch als Kunst

Arnold Mario Dall’O ist ein Büchermensch. Der Geruch von bedrucktem Papier, die haptische Beschaffenheit des Einbandes, die sinnliche Erfahrung ein Buch aufzuschlagen - all das hält er für nicht ersetzbar. Er lebt und arbeitet in Lana, ein paar Kilometer südlich von Meran. Am Flohmarkt hat er vor ein paar Jahren eine Ausgabe des Stieler Handatlas erstanden, eine im deutschsprachigen Raum dereinst populäre Landkartensammlung, die zwischen 1816 und 1944 in mehreren Überarbeitungen erschienen ist. Dall’Os Ausgabe datiert aus dem Jahr 1906. Er legte sie ab und vergaß sie, bis er sie beim Ordnungsmachen in der reisefreien Pandemie-Zeit wieder entdeckte. In der Beschränktheit des Ateliers begann er, mit dem Finger auf der Landkarte jene Orte aufzusuchen, die er bereits bereist hatte, und solche, die ihm fremd waren, „eine schöne und fruchtbare Ablenkung“, meint er rückblickend.

Linolschnitte

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Anachronistische Atlanten

Die imaginierten Reisen führten nicht nur in fremde Länder, sondern auch in vergangene Zeiten - denn ein Atlas, so Dall’O ist immer nur eine Momentaufnahme. 1906, als seine Ausgabe des Stieler Hand-Atlas herauskam, war Österreich-Ungarn eine Weltmacht und Afrika ein kaum erforschter Kontinent. „Ein Atlas ist immer anachronistisch. Wir sehen, wie leicht sich Grenzen verändern, auflösen oder neu bilden können.“

Die einhundert Karten des alten Atlanten überschrieb Arnold Mario Dall’O mit einhundert Geschichten, illustriert von jeweils einem schwarzen Linolschnitt, den er direkt auf die originale Karte druckte. „In der Pandemie sehnte ich mich danach, etwas Handwerkliches zu arbeiten - der Linolschnitt war für mich naheliegend. Er braucht zwar eine Kraftaufwendung, ist aber eigentlich - bis zur Fertigstellung der Drucke - leicht allein handhabbar“, sagt der Künstler und Buchgestalter Arnold Mario Dall’O, der in jungen Jahren Bleisatz gelernt und als Drucker gearbeitet hat. Für den Folio Verlag gestaltet er seit dessen Gründung die Cover der literarischen Titel. Mit „Mein Handatlas. Hundert Bilder und Geschichten“ gibt Dall’O nun im Folio Verlag sein Debüt als Autor. Er hat kurze Texte zur Erklärung der Bilder verfasst, Prosaminiaturen über das Menschsein, so Dall’O. Sie können poetisch-schön oder auch entrückt-grausam sein.

„Die Wunderwaffe“

Karte 89, Vereinigte Staaten, Blatt 4 zeigt eine Bombe mit Propellerantrieb. Zu den Stichworten „Carlsbad Air Base“, „Bad Bomb“ und „1943“ steht dabei mit dem Titel „Die Wunderwaffe“ diese Anekdote: „Man befestige 1.768 Gramm Napalm an Fledermäusen, versehe sie mit Zeitzündern, stecke diese in einen kegelförmigen Metallbehälter und werfe diesen über bewohntes Gebiet ab. Dort schwärmen die Fledermäuse dann aus, nisten in den Hausmauern, bis die lebenden Zeitbomben explodieren und sie ihr Umfeld in Schutt und Asche legen. Amerikas Präsident Roosevelt konnte der Idee durchaus Positives abgewinnen, als jedoch bei Versuchen in einer Army Air Base, ein Flugzeughangar und der Wagen eines Generals in Flammen aufging, wurde die Weiterentwicklung der Bat Bomb vorerst auf Eis gelegt.“

Tiefgründiges steht neben Leichtfüßigem; Ereignisse, die den Lauf der Geschichte bestimmen, neben wenig weltbewegenden Beobachtungen. Auf der Stieler Karte Nr. 44 „Europäisches Russland und Nord-Skandinavien“ ist über den Norden Schwedens eine Konservendose gedruckt. „Zugebenerweise war ich in Schweden und da saß ich dann über der Doppelseite im Atlas und frage mich, was ich machen könnte. Ich begann zu recherchieren und stieß auf diese Geschichte, die ich eigentlich witzig finde. Ich weiß nicht, was diese Geschichte genau erzählt. Es sind vielleicht die kleinen Befindlichkeiten der Menschen, die das Große erklären und nicht umgekehrt.“

„Explosionsgefahr“

„Die Verdauung findet beim Menschen primär im Zwölffingerdarm und Dünndarm statt. Die zugeführte Nahrung wird zum Teil in Energie umgewandelt.
Die Delikatesse Surströmming wird aus Ostseeheringen hergestellt. Sie werden in Salzlake eingelegt, wo sie zu gären beginnen, anschließend in Konserven verschlossen, in denen sie weiter fermentieren. Die Zersetzung und die entstehenden Gase wölben Dose und Deckel der Konserven. Aus Sorge vor Explosionsgefahr ist der Transport von Suströmming-Dosen auf Flügen von Air France und British Airways verboten.
Im Geschmack ähnlich dem fermentierten Haifisch Islands, ist der Genuss des schwedischen Surströmming dem unvorbereiteten Feinschmecker nicht ans Herz zu legen.“

Eine subjektive Erklärung der Welt

„Mein Hand-Atlas“ heißt das Buch, das Arnold Mario Dall’O selbst gestaltet hat, und im Untertitel „Wie ich mir die Welt erkläre“ - es ist der subjektive Versuch, mittels Kartographie und Chronologie eine Welt zu deuten, die sich jeder Deutung entzieht; Kultur, Menschheitsgeschichte und politische Ereignisse werden in kurzen Episoden und schematischen Motiven reflektiert: bildhafte Denkanregungen zu Fragen, die man sich im Alltag so stellt. Er sei kein Meinungsmacher, so der Künstler, aber er versuche anhand von „leichten Geschichten“ zu erzählen, wie es gehen könnte oder wie es anders gehen könnte.

“Schwarz und Weiß“

„Langstrumpfs Vater ist ‚Negerkönig‘ von ‚Taka Tuka‘, wie es in meiner historischen Ausgabe von Pippi Langstrumpf heißt. In den neueren Ausgaben, seit 2009, hat er sich in einen Südseekönig verwandelt.
Der beliebte Keks, eine mit dunkler Schokolade überzogene Waffel, hieß ‚Afrika‘. Nach Rassismus-Vorwürfen änderte der Hersteller den Namen. Der Keks heißt nun Perpetum. Das Design der ursprünglich schwarz-blauen Schachter erstrahlt in leichten Pastelltönen.
Mein Großvater ist von Venetien nach Südtirol übersiedelt. Er hatte eine relativ dunkle Hautfarbe. Diese ‚färbte‘ auf meinen Vater und von diesem wiederum auf dessen Söhne ab. Das brachte meinem Bruder und mir in unserer Heimatgemeinde den Spitznamen ‚Neger‘ ein.

„Erst kürzlich hat mir eine befreundete Lehrerin gesagt“, so Dall’O, „sie würde meinen Hand-Altas gern im Schulunterricht verwenden, weil im Grund viele Dinge enthalten sind, die mit der Weltgeschichte zu tun haben, eben mit dem Menschsein zu tun haben. Man kann über viele Dinge diskutieren. Ich sehe es zwar nicht als Lehrbuch, eher noch als unterhaltendes Buch - allerdings ist es auch ernsthafter, als es im ersten Moment den Anschein hat.“

Ausstellungsansicht

ORF/ANNA SOUCEK

Was das Leben reicher macht

Derzeit zeigt Arnold Mario Dall‘O die originalen Drucke, allesamt Einzelstücke, in einer Ausstellung in Schloss Tirol bei Meran - in der Reihenfolge des Stieler Hand-Atlas von 1906, beginnend mit der Karte 1 „Der nördliche Sternenhimmel“, bis zur Karte 100 „Süd-Amerika“.
Dazwischen spannt er assoziative Verknüpfungen zwischen Zeiten und Regionen; er berichtet von sportlichen Sternstunden im Kalten Krieg, von der Präsenz des persischen Dichters Hafez im Schiras der Gegenwart, von südosteuropäischen Plattenbauten und der Brüsseler Weltausstellung von 1958, von der Tätowiertradition in Japan, von der Liaison eines ungarischen Pornostars mit einem amerikanischen Pop-Art-Star, vom tödlichen Schuss aus William Burroughs Waffe in Mexiko, und vom „Rumble in the Jungle“ in Kinshasa 1974. Nichts sei erfunden, sagt der Künstler, außer dass sein Teddybär kein Glasauge gehabt hätte, wie er in einer Kindheitserinnerung behauptet.

Auffällig ist: Nicht selten sind es gerade die sinistren, abgründigen, irrationalen Aspekte des Menschseins, die ihn interessieren. „Aber das ist ja das Spannende! Das Menschsein besteht eben auch aus kleinen Boshaftigkeiten oder großen Boshaftigkeiten. Ja, beides, die Liebe und der Schmerz, sie machen beide im Grunde das Leben aus, und sie machen es reicher.“

Gestaltung

  • Anna Soucek

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