Katja Petrowskaja

APA/GERT EGGENBERGER

Katja Petrowskaja

"Das Foto schaute mich an"

2013 gewann die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja den Bachmannpreis, ein Jahr später sorgte ihr Debütroman "Vielleicht Esther" für Begeisterung. Nun erscheint ihr neues Buch "Das Foto schaute mich an" und stellt abermals einen unbeabsichtigten Schlüssel zur Gegenwart dar.

Die in Kiew geborene Autorin setzte sich in ihrem 2014 erschienen Roman "Vielleicht Esther" mit den Schicksalen ihrer Großeltern in den beiden Weltkriegen auseinander. Das Buch ist eine sehr komplexe Vorgeschichte zum Ukraine-Krieg, und deshalb ist sie ein gefragter Gast in deutschsprachigen Talkshows und Zeitungen, in denen sie die Meinung vertritt, dass der Westen die moralische Pflicht habe, die Ukraine militärisch zu unterstützen. Die 28 Intellektuellen, die den viel diskutierten offenen Brief an den deutschen Kanzler unterschrieben, kann sie nicht verstehen.

Es geht nicht um die Ukraine, es geht um Europa

Zwischen 2015 und 2021 verfasste Katja Petrowskaja Kolumnen für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" - kurze Texte und Bildbetrachtungen von Fotos aus dem Familienalbum oder aus der Kamera bekannter Künstlerpersönlichkeiten. Bei der Auswahl der Zusammenstellung überrascht zunächst die Aktualität mancher Bilder, etwa gleich des ersten Fotos "Bergmann vom Donbass".

Die traurige Vertrautheit der schwer umkämpften Region holt die Leserschaft augenblicklich in die Gegenwart, wenngleich Bild und Text aus dem Jahr 2015 stammen. "Das Foto schaute mich an" sei kein Buch über den Krieg, aber ein vom Krieg gerahmtes, erklärt Katja Petrowskaja: "Als mein Roman 'Vielleicht Esther' herauskam, wurde gerade die Krim annektiert und Russland griff die Ostukraine an; jetzt erscheint mein neues Buch mitten im nächsten Krieg. Ich fühle mich von der Geschichte überholt."

Buchcover von "Das Foto schaute mich an".

SUHRKAMP

Bildbetrachtung als Widerstand gegen die Bilderflut

Da hilft es vielleicht, statt einer Aufholjagd in den Stillstand zu wechseln, und der rasenden Text- und Bilderflut aus dem Krieg mit eingehenden Text- und Bildbetrachtungen zu begegnen. Also zurück zum Bergmann vom Donbass, der unverhohlen in die Kamera schaut und dem Gegenüber keck eine Rauchwolke ins Gesicht bläst. Petrowskaja schaut zurück, stellt Fragen und erkundet das Bild Detail um Detail, "so als würde ich das Foto durch meine Betrachtung in Echtzeit entwickeln wie bei der analogen Fotografie", sagt die Schriftstellerin.

Bei der Auswahl der Bilder setzt sie auf Verblüffung und Irritation - im positiven und negativen Sinn: Eine Babuschka schwebt einsam im Sessellift, eine geflüchtete Syrerin in goldener Wärmedecke erinnert an Botticellis Madonna. Dazwischen Schneelandschaften, ein Haus in Flammen oder Familienfotos. Sie alle überzeugen auf witzige oder tragische Weise durch ihren je besonderen Fokus oder Bildausschnitt.

Der einfache Blick auf komplexe Gräuel

"Ich habe in diesen Texten versucht, einen einfachen Menschen zu simulieren, dessen Betrachtungen ohne jegliche Thesen und Theorien auskommen", erzählt die Ukrainerin, die als 29-Jährige nach Deutschland kam und Deutsch zu ihrer Literatursprache machte.

Dieser scheinbar naiven Betrachtung entspringen oft unerwartete Wendungen und Wortspiele, brisante politische Hintergründe oder subtile Verweise auf die Geschichte der Ikonografie, von Susan Sontag bis Roland Barthes, von Henry Rousseau bis Christine de Grancy. Und immer ein abrupter Wechsel zwischen Glück und Schrecken.

Traum-Flucht-Orte vor der Kriegsohnmacht

Das Buch habe am Ende einen Bogen ergeben von der Ohnmacht des Betrachters beim Anblick der Kriegsbilder bis zu den träumerischen Fluchtorten, die die Fotografie bereithalte, so Petrowskaja.

Einen derartigen Traum-Flucht-Ort hält das letzte Bild parat: Ein Schimmel inmitten einer märchenhaften Wildnis aus Olivenbäumen und Palmen. Für Petrowskaja trägt er unverkennbar ein Horn auf der Stirn. Und es bereitet keinerlei Mühe, ihren Zeilen zu folgen und das magische Einhorn ebenfalls zu erkennen.

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Katja Petrowskaja, "Das Foto schaute mich an", Suhrkamp

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