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Faktenroman von Anna Kim
"Geschichte eines Kindes"
Für ihr neues Buch griff die österreichische Schriftstellerin Anna Kim auf Akten zurück, die über die schwierige Adoption eines Buben in den USA der 1950er Jahre berichten. Themen wie Rassismus und die Frage nach der Herkunft wirft die gebürtige Südkoreanerin da auf und spinnt dazu Fäden in die Gegenwart und zur Rassenideologie der Nazis.
22. September 2022, 02:00
Green Bay in Wisconsin im Jahr 1953. Die Kleinstadt wird fast ausschließlich von Weißen bewohnt, die ohnehin verschwindend kleine schwarze Community führt eine Randexistenz, bis zur Aufhebung der Rassentrennung sollte es noch elf Jahre dauern.
Ein gefundenes Fressen für jeden, der sich für Sprache interessiert", Anna Kim
ROLAND DREGER
Das literarische Potential von Akten
In diesem Umfeld gibt eine junge Frau ihr Kind gleich nach der Geburt zur Adoption frei. Bald steht der Verdacht im Raum, dass der Vater des Buben ein Schwarzer ist, doch die Mutter macht dazu nur vage Angaben. "Die hat wirklich ein Versteckspiel betrieben", erzählt Anna Kim. "Bis zum Schluss hat sie nicht verraten, wer der Vater ist. In meiner Version ist das natürlich noch viel extremer, aber im echten Leben war sie auch sehr verschwiegen. Bis zu ihrem Tod."
Kim wurden die Originalakten dieses Falles zugespielt. Diese hat sie literarisch überarbeitet, die formale Struktur des bürokratischen Berichts aber beibehalten. "Ich habe diese Form der Akte verwendet, weil mich diese vermeintlich objektive Sprache sehr interessiert hat", so Kim. "Gerade in unserer Gegenwart, in der es diese Diskussion über Fakten, Fiktion und Fake News gibt, das spielt ja da alles mit hinein."
Subjektive Objektivität
immer wieder wird der Sozialdienst bei der Mutter des zur Adoption freigegebenen Danny vorstellig. Zum einen will man von der im Prekariat lebenden Frau die Kosten für Krankenhaus und Unterbringung ihres Sohnes einheben, zum anderen will man die Identität des Vaters klären, weil ein Mischlingskind in der damaligen Zeit kaum Aussicht auf eine Pflegefamilie hat.
Kim haben beim Lesen dieser Akten die Werturteile frappiert, die da getroffen wurden: "Zum Beispiel, ‚das Zimmer ist unordentlich!‘. So etwas lässt natürlich sofort Rückschlüsse auf den Charakter der untersuchten Person zu. Das hat mich total erstaunt, wie subjektiv man in so einer objektiven Form schreiben kann."
SUHRKAMP VERLAG
Rassismen in der Sprache
Die Akten sind die eine Textform in Anna Kims Roman "Geschichte eines Kindes", die andere ist der Bericht der Ich-Erzählerin Franziska, die sich auf die Spur der einst mit Dannys Fall befassten Sozialarbeiterin setzt und auf die Österreicherin Marlene Winckler stößt, die im Wien der Nazi-Zeit Anthropologie studiert hat. Quälend sei die Lektüre der damaligen Lehrbücher über die Vermessung des Menschen gewesen, so Anna Kim.
"Das Überraschende war, dass ich nicht den Eindruck hatte, dass sich so viel verändert hat in der Zeit. Ich bin ja mit ähnlichen Beschreibungen, was mein Aussehen betrifft, aufgewachsen, und es ist noch nicht so lange her, dass mir ganz genau erklärt wurde, wie meine Augen aussehen, und da wurde natürlich das Wort Schlitzaugen verwendet."
Detektivin im Erinnerungsraum
Neben der Identität von Dannys Vater und der Geschichte der österreichischen Anthropologin spürt die Icherzählerin als Halbkoreanerin in Österreich auch der Frage nach, was ein Ort aus einem Menschen macht. Toll wie Anna Kim, das in ihrem Roman sprachlich löst. Als würde Raymond Chandlers Detektiv Philip Marlowe statt auf Verbrecherjagd zu gehen nach den unauslöschlichen Räumen der Erinnerung fahnden.
Service
Anna Kim, "Geschichte eines Kindes", Roman, Suhrkamp
Gestaltung
- Wolfgang Popp