Juri Andruchowytsch

APA/GEORG HOCHMUTH

Roman von Juri Andruchowytsch

"Radio Nacht"

Juri Andruchowytsch gilt als einer der wichtigsten und international erfolgreichsten ukrainischen Schriftsteller, sein Werk erscheint in zwanzig Sprachen, 2006 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. In seinem neuen Roman "Radio Nacht" ist der Protagonist ein Musiker und ehemaliger Revolutionär, der als Moderator einer langen Radionacht sein ungewöhnliches Leben Revue passieren lässt.

In seinem Namen stecken gleichzeitig Trotzki, Brodsky und Joseph Roth und genauso schwammig und ungreifbar ist auch die Identität dieses Josip Rotzky, der von einer geheimnisvollen Insel aus, seine liebsten Songs und seine haarsträubende Geschichte in den Äther schickt.

Kunst und Verbrechen

Josip Rotsky war nacheinander Revolutionär, Gefängnisinsasse und Attentäter, als einziger Fixpunkt zieht sich die Musik durch sein Leben. "Ich mag diese Vagabunden, die sich auf dem schmalen und gefährlichen Grat zwischen der Welt der Künstler und der Welt des Verbrechens bewegen", sagt Andruchowytsch über seinen Romanhelden.

Straßenzug auf einem Buchcover

Juri Andruchowytschs Roman "Radio Nacht" ist, übersetzt von Sabine Stöhr, bei Suhrkamp erschienen.

Die Szene, in der sein Protagonist als Barrikadenpianist die Revolution unterstützt, hat Juri Andruchowytsch übrigens unmittelbar aus einem Erlebnis auf dem Euromaidan übernommen, wo er 2013 und '14 an den Protesten teilnahm. "Damals haben viele Menschen ihre Klaviere auf die Straßen von Kiew gestellt und dann erschien ein Pianist, der sein Gesicht hinter einer Maske verbarg wie ein echter Barrikadenkämpfer, spielte und bekam den Spitznamen 'Extremist' verpasst", erzählt Andruchowytsch.

Von Raben und Präsidenten

Sein Held bekommt den Spitznamen "Aggressor" verpasst, muss sich aber nicht nur durch die harte Realität eines Widerstandskämpfers schlagen, sondern auch durch eine surreale, märchenhafte Wirklichkeit, bei der ihm ein Rabe als treuer Weggefährte beisteht. Doch so wild diese Ausflüge ins Fantastische sind, von Sabine Stöhr gewohnt gelungen ins Deutsche übertragen, so verlässlich wirft Andruchowytsch den Anker im damaligen politischen Geschehen.

Als er 2019 an dem Roman "Radio Nacht" geschrieben hat, wurde Wolodymyr Selenskyj gerade zum neuen Präsidenten gewählt. Im Roman schreibt Andruchowytsch mit bitterem Sarkasmus von einem TV-Comedian, den man "gewaltsam in den Sessel des Staatschefs verpflanzt hatte". Umso interessanter sei dessen Verwandlung mit Kriegsausbruch gewesen, so Andruchowytsch heute: "Ich bin höchst erstaunt, wie richtig alle seine Entscheidungen sind. Das ist eigentlich Stoff für einen künftigen Roman über die Entwicklung eines Politikers."

Die Kolumne als Kampfzone

Derzeit ist Juri Andruchowytsch häufig auf Reisen, am Wochenende hat er ein Literaturfestival in Hamburg eröffnet und in einem Gespräch über die derzeitige Situation in der Ukraine erzählt. In einer regelmäßigen Kolumne schreibt er auch über den russischen Angriffskrieg und seine Begleiterscheinungen.

"Die letzte Kolumne", so Andruchowytsch, "war eine Auseinandersetzung mit dem russischen Filmregisseur Nikita Michalkow, der als Putin-treuer Leiter vor kurzem das Moskauer Filmfestival eröffnet hat und in seiner Rede das Ukrainische als die Sprache des Nazistischen Hasses bezeichnet."

Von Tom Waits bis Soap&Skin

Juri Andruchowytsch ist ein wacher politischer Intellektueller, ein wilder Erzähler, der die Grenzen der Realität ohne zu bremsen überquert, und ein leidenschaftlicher Musiker und Musikhörer. In seinem neuen Roman "Radio Nacht" kommen alle drei Identitäten nebeneinander zum Zug, begleitet von einem Soundtrack, der von Tom Waits bis zur Österreicherin Soap&Skin reicht.

Service

Juri Andruchowytsch, "Radio Nacht", Roman, aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr, Suhrkamp

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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