Julia Reuter mit einer Ausgabe von Stevensons "Dr. Jeckyll"

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Radiokolleg

Gothic Novels

Die "Bücherbox" widmet sich Klassikern der englischen Schauerliteratur

Der Sommer 1816 in der Schweiz war nass und unfreundlich, endloser Regen zwang Mary Shelley, ihren Gatten Percy, den berüchtigten Autor Lord Byron sowie den Arzt John William Polidori dazu, tagelang in ihrem Haus am Genfer See zu bleiben. Dort, in der Villa Diodati, versuchten sie sich ihre Langeweile zu vertreiben.

In der Bibliothek fanden sie einige Schauerromane - deutsche Geistergeschichten, die ins Französische übersetzt worden waren. Lord Byron rief zu einem Dichterwettstreit auf: Jeder von ihnen sollte eine eigene Geistergeschichte zu Papier bringen. Dabei entstand u. a. der erste Vampirroman der Literaturgeschichte: "The Vampyre" von John Polidori.

Julia Reuter mit einer Ausgabe von Mary Shelleys "Frankenstein"

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Der moderne Prometheus

Mary Shelley wollte unbedingt eine Geschichte schreiben, die mit jener von Lord Byron, einem angesehenen Dichter, mithalten konnte. Allerdings fehlte ihr eine zündende Idee für den Inhalt. Erst als sie ihren Ehemann und Lord Byron eines Abends über die Frage nach dem Wesen des Lebens diskutieren hörte, nahm, wie sie selbst in einem Vorwort schrieb, ihre Vorstellungskraft von ihr Besitz: "Ich sah das grässliche Trugbild eines Menschen ausgestreckt liegen, und dann, auf die Arbeit irgendeiner mächtigen Maschine hin, gab es plötzlich Lebenszeichen von sich und regte sich mit einer ungelenken, kaum lebensähnlichen Bewegung."

Es entstanden immer schaurigere Bilder in Mary Shelleys Kopf, aus denen sie schließlich eine erste Kurzversion von "Frankenstein" entwickelte. Zwei Jahre später, 1818, veröffentlichte sie ihren Roman anonym - im selben Jahr, in dem auch "Northanger Abbey" von der kurz davor verstorbenen Jane Austen erschien. Austen macht sich in ihrem Roman über das damals äußerst beliebte Genre "Gothic Novel" lustig, dem auch "Frankenstein" zugeordnet wird.

Geöffnete Box aus der Buchstaben quellen

Die Radiokolleg-Bücherbox im Achiv

Mittelalterliches Grauen

In der englischen Literaturwissenschaft wird viel darüber diskutiert, ob "Gothic" überhaupt ein eigenes Genre oder lediglich ein literarischer Stil sei. Tatsächlich tragen sehr unterschiedliche Werke den Stempel Gothic. Selbst der Begriff Gothic hat verschiedene Bedeutungszuschreibungen, die sich u. a. auf den Stamm der Goten oder den mittelalterlichen Architekturstil Gotik zurückführen lassen. Dass sich der Begriff Gothic in der englischen Literaturwissenschaft überhaupt durchgesetzt hat, verdankt sich einem Zufall. 1764 erschien in London die angebliche Übersetzung einer ursprünglich 1529 in Neapel gedruckten Erzählung: "The Castle of Otranto. A Story".

Die Kritik war zunächst begeistert von dieser "Entdeckung", doch die Begeisterung hielt nicht lang an, denn mit der zweiten Auflage gab sich Horace Walpole als eigentlicher Autor des Werks zu erkennen.

Heute würden wir von einem PR-Gag sprechen. Bei der dritten Auflage fügte Walpole dem Titel noch ein Wort hinzu: "The Castle of Otranto. A Gothic Story". Gothic sollte in diesem Zusammenhang auf das Mittelalter verweisen, die Zeit der Handlung. Die Veröffentlichung von Walpoles Roman gilt als Auftakt der englischen Schauerliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts.

Julia Reuter mit einer Ausgabe von Charlotte Brontes "Jane Eyre"

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Dunkle Burgen und Wälder

Die frühen Werke dieser Ära hatten alle einen starken Bezug zum Mittelalter, spätere nutzten mittelalterliche Gebäude wie Schlösser oder Klosteranlagen als Setting der jeweiligen Handlung, ausgestattet mit unterirdischen Passagen, dunklen Wehrgängen oder Falltüren. In Bram Stokers "Dracula" (1897) ist das unheimliche Schloss des Grafen Schauplatz der ersten Kapitel (sowie des Finales), während auf Mr. Rochesters Anwesen Thornfield Hall in Charlotte Brontës "Jane Eyre" (1847) ein aggressiver Geist umzugehen scheint, der sich als die auf dem Dachboden versteckte, nervenkranke Gattin Rochesters herausstellt.

Neben den Gebäuden ist auch die wilde, unzähmbare Natur ein weiteres Merkmal von Gothic Novels: So wandert Charlotte Brontës Titelheldin Jane Eyre tagelang einsam durch die Moore, in "Sturmhöhe" ("Wuthering Heights"), dem einzigen Roman von Charlottes Schwester Emily, ist die wilde Landschaft sogar titelgebend; in "Frankenstein" wiederum verfolgt der titelgebende Doktor seine Kreatur durch das arktische Eis.

Julia Reuter mit einer Ausgabe von Stokers "Dracula"

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Unerklärliches

Übernatürliche Elemente gehören ebenfalls zu den Merkmalen der Gothic Novels, wobei diese in manchen Werken sogar eine logische Erklärung erhalten, etwa in Robert Louis Stevensons Novelle "Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde" (1886), in "The Mysteries of Udolpho" von Ann Radcliffe (1794) oder in "Der Hund von Baskerville" von Arthur Conan Doyle (1902). Auch in "Dracula" versucht der Vampirjäger Van Helsing zunächst, eine rationale Erklärung für den starken Blutverlust der bezaubernden Lucy zu finden. Dass diese von den noblen Herren im Roman jedoch nicht gerettet werden kann, sorgt für starke Emotionen - noch ein Kennzeichen von Gothic Novels, die nicht umsonst in der Nähe der Romantik stehen.

Anhand von vier Klassikern dieser Literaturgattung ("Frankenstein", "Jane Eyre", "Doktor Jekyll und Mr. Hyde", "Dracula") geht das Team der "Ö1 Bücherbox" in Staffel 7 der Frage nach, welche Faszination Gothic Novels noch heute auf uns ausüben.

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