Brueghel, Sieben Laster, Superbia

GEMEINFREI

Ö1 Kunstgeschichten

Hans Platzgumer im Metropolitan Museum

Wer in New York als Popmusiker so richtig durchstartet, den zieht es nicht unbedingt ins Museum. Höchstens wenn es in der Wohnung unerträglich heiß und im Central Park unerträglich kalt ist. Irgendwann steht der Gitarrengott dann vor Pieter Bruegels Bild „Superbia“ aus der Serie der „Sieben Todsünden“, und muss sich mit seinem eigenen Hochmut beschäftigen. Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.

Ich weiß nicht, wie lange ich schon reglos, versteinert, verkrampft hier herumstehe. Ich weiß nicht, warum ich reglos, versteinert, verkrampft hier herumstehe, mitten im Museum. In der Abteilung für europäische Kunst, um genau zu sein, flämische Kunst, Spätrenaissance, das wenigstens weiß ich. Ich befinde mich im Metropolitan Museum of Art, durch die halbe Stadt bin ich heraufgelatscht in den Central Park. Jetzt bin ich Uptown, wo ich sonst nie bin. Es ist der 23. Dezember 1991. Ich verspüre das eigenartige Bedürfnis, derlei Fakten benennen zu müssen. Muss alles festhalten, was es festzuhalten gibt. Denn die Dinge, so scheint es, könnten mir entgleiten, wenn ich nicht aufpasse.

Hans Platzgumer

Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, begann seine Laufbahn als Gitarrist und Sänger, verlegte sich in den letzten Jahren aber zunehmend auf die Literatur. Zuletzt erschien sein Roman „Bogners Abgang“. Daneben komponiert Platzgumer Musik fürs Theater, schreibt Hörspiele und gibt hin und wieder ein neues Album mit seiner Band „Convertible“ heraus.

Ich vergewissere mich, ob alles stimmt, alles richtig ist in mir, um mich herum, drinnen wie draußen. Draußen, da ist New York, keine Frage, es gibt nichts Vergleichbares mit dieser, meiner Stadt. New York City, das ich erobert habe und noch weiter erobern werde, es klirrt heute vor Kälte. Ein Tag vor Weihnachten. Die Stadt noch hektischer als sonst. Alle wollen Geschenke kaufen, selbst die, die schon mehr als genug gekauft haben. Die New Yorkers hetzen von einem überdekorierten Kaufhaus ins nächste, und nicht nur die Geschäfte, auch die Wohnhäuser, jeder noch so abgelegene Häuserblock ist festlich erleuchtet, Manhattan eine einzige Lichterkette, Rentiere, Schlitten fliegen herum, Santa Claus klettert mit seinem Sack die Hauswände hoch, selbst die Penner, die über den warmen Abluftschächten der Subway herumlungern, tragen Nikolausmützen.

Wahrscheinlich liegt es an diesem Rummel, dass ich das Gefühl habe, die Welt könnte mir entgleiten? Sogar der Boden hier im Met scheint unter meinen Füßen zu vibrieren, obwohl es ja im Museum ruhiger ist als sonstwo. Mein Körper ist angespannt, die Muskeln zucken unkontrolliert, mal im Arm, im Oberschenkel, im Rücken, an den Schläfen. Mein Nacken ist steif, wohl wegen der verdammten Kälte da draußen. Ich hoffe, hier drinnen wird er sich lockern. Vielleicht hätte ich wie Lydia heimfliegen sollen? Alle fliegen zur Weihnachtszeit heim. Meine Heimat aber liegt nicht mehr drüben in Europa, in Wels, diesem Kaff, aus dem ich komme. Auch dort habe ich Weihnachten nie gemocht, soweit ich mich erinnern kann. Auch in Wels war es bloß verlorene Zeit, Weihnachten eine Verpflichtung, nichts sonst, eine Familienhorrorshow. Ich habe mich weit von Europa entfernt, bin so weit gekommen. Seit Jahren im Big Apple. Auch Lydia habe ich nachgeholt und ihr mittlerweile den Job in der Taqueria verschafft. Ihr gefällt es, klar, wem gefällt NYC nicht? Unsere Wohnung im East Village ist klein und überteuert, bald aber werde ich eine größere anmieten können, so gut, wie sich das mit der Band entwickelt. Unsere letzte Platte war ein Erfolg. 70.000 Stück. Und das noch bevor Nirvana den Hit rausgehauen und den Markt komplett geöffnet haben, noch vor „Smells Like Teen Spirit“. Alle schwärmen, alle begeistert.

Arrmin Berger

Armin Berger arbeitet, nach einigen Theaterjahren, seit 2001 als Sprecher u.a. in Synchronrollen, als Kommentator in Dokumentationen für Radio- und Fernsehstationen, und bestreitet neben Lesungen in den Literaturhäusern in München und Zürich auch Werbespots und E-Learnings.

Gitarrengott werde ich genannt. Anfang Zwanzig und schon der neue Hendrix. Fanbriefe aus der ganzen Welt. Journalisten fliegen ein, um mit mir und den Bandkollegen zu reden. Ja, das Auswandern hat sich gelohnt. New York, New York, if you make it there, you’ll make it everywhere. Die Plattenfirmen reißen sich um uns. Letztes Jahr bin ich mit Kurt Cobain noch im Backstageraum gesessen, wir haben gemeinsam eine Nase hochgezogen, und jetzt, wenn das neue Album kommt, dann stehe ich wie er auf den Titelseiten, oder im Madison Square Garden, ja auf der Bühne im Madison Square, es wird nicht lange auf sich warten lassen. Alle Radiostationen spielen jetzt Alternative Rock. Jeder A&R will sich die nächsten Nirvana sichern. Und das sind wir. Nur diese Weihnachtspause noch aussitzen. Nach der Holiday Season unterschreibe ich den Vertrag. Die Zukunft liegt ausgerollt vor mir.

Nur im Moment geht nichts weiter. Ich stehe im Museum vor einem Gemälde, ein plötzlicher Stillstand, wie angewurzelt vor diesem jahrhundertealten Kupferstich. Was habe ich hier eigentlich zu suchen? Ein Zeugnis des alten Europa klebt vor meiner Nase, ein Vermächtnis der alten Welt. Es hat nichts mit mir zu tun, ich bin in der neuen Welt angekommen. Mich interessiert die Zukunft, nicht die staubige Vergangenheit, meine Zukunft, nicht dieses mittelalterliche Flandern, das hier dargestellt ist, am Morgen des 80-jährigen Krieges. Was habe ich damit zu tun? Wieso kann ich mich nicht von diesem Bild trennen? Alles tut mir weh, so steif bin ich, so verspannt. Das ist die Körperhaltung, sagt Lydia. Du stehst immer so verkrümmt auf der Bühne, über die Gitarre gekrümmt, kein Wunder, dass du Kreuzschmerzen bekommst. Tagsüber sitzt du im Tourbus, ratterst über Highways, abends trittst du in Städten auf, deren Namen du noch nie gehört hast, und schläfst in schäbigen Motels, eines wie das andere, eine Matratze durchgerockter als die andere. Gegen die Rücken- und all die anderen Schmerzen wirfst du Tabletten ein und trinkst eine Flasche Fernet Branca oder zwei und was sonst noch alles. Kein Wunder, dass du ein Wrack bist, sagt Lydia. Ich bin nicht mehr oder weniger Wrack als andere Rockstars auch, sage ich. Wrackstars, sagt sie. Ich kann nicht anders und ich will nicht anders, sage ich, denn das jetzt ist der Moment. Lydia macht sich Sorgen, sie weiß aber natürlich, dass ich mich nicht aufhalten lassen werde. Sie will mich auch nicht aufhalten, sie will ja wie ich, dass wir durchstarten, jetzt oder nie, es ist immer alles jetzt oder nie. Flieg du ruhig heim ins verschlafene Österreich, sage ich zu Lydia, wenn du Weihnachten dort verbringen willst, kein Problem, ich aber habe keine Zeit. Klar ist das alles etwas viel für sie, ist ja alles neu und ungewohnt. Das Leben in der New York Noise Scene ist ein Rausch. Lydia ist erst seit einem halben Jahr hier, und sie ist jünger als ich, 22 geworden letzten Monat. Zum Geburtstag schenkte ich ihr ein Flugticket nach Chicago, wo wir an dem Abend auftraten. Lydia war früher als wir in der Stadt, nachmittags ging sie in den Zoo und an den Ohio Street Beach. Ich weiß nicht, wieso mir das alles jetzt einfällt. Jedenfalls ist Lydia über Weihnachten heimgeflogen. Zu Silvester wird sie wieder hier sein, dann spielen im Electric Ballroom, das will sie nicht versäumen. Dass New York mein Zuhause ist und inzwischen auch ihres, das versteht sie. New York is home to me, so sagte ich es zu dem Journalisten vom NME, der letzte Woche samt Fotografem von London rübergeflogen worden ist, um mich zu interviewen. I see, sagte er und nickte.

Für einen New Yorker gehört auch mal ein Spaziergang im Central Park dazu und ein Besuch im Met. Auch wenn ich sonst mit bildender Kunst nichts zu schaffen habe, heute ist der Tag dazu. Es gibt nichts anderes zu tun, und draußen ist es wirklich scheißkalt. In der Wohnung ohne Lydia ist es langweilig, überhaupt bekomme ich dort irgendwie kaum Luft zur Zeit, wahrscheinlich wegen dieser so übertrieben hochgefahrenen Heizung. Unsere Heizrohre glühen fast, man verbrennt sich die Hand daran, wenn man nicht aufpasst. Tag und Nacht wird durchgeheizt, das ist hier so, man kann nichts dagegen machen, außer alle paar Minuten das Fenster aufzureißen. Mit offenem Fenster ist es dann sofort zu kalt. Ich mache es also wieder zu und atme die Luft ein, die mir wie Qualm vorkommt. Habe ich genug davon, ziehe ich meinen Fellmantel an, einen wie ihn Phil Lynott auf den alten Lizzy Fotos trägt, standesgemäß. Ich gehe raus an die Frischluft, und, weil es im East Village oder zwischen den Wolkenkratzern nur klirrende, nicht frische Luft gibt, gehe ich hinauf in den Park. Im Park fegt dann der Wind über die gefrorenen Wiesen, als wolle er mein Gesicht und überhaupt alles auslöschen. Mir wurde übel vor Kälte, und mir fiel ein, dass ich schon seit Wochen diese Eintrittskarte fürs Museum in der Tasche habe. Tante Grete, die im November zu Besuch kam, hat sie mir geschenkt. Selbstredend wollte ich nicht mit Tante Grete ins Museum gehen und stundenlang vor jedem Gemälde herumstehen und mir ihre kunsthistorischen Vorträge anhören. Es reichte, dass wir zweimal mit ihr essen gingen, einmal ins Steakhaus, auf meinen Wunsch, und einmal zu diesem Italiener in Little Italy, der in jedem Reiseführer steht und wo ich froh war, als wir nach dem Tiramisu so schnell wie möglich aufbrechen konnten. Lydia begleitete Tante Grete an meiner Stelle ins Museum, die beiden verbrachten quasi einen ganzen Tag dort, Wahnsinn. Und jetzt stehe ich alleine hier in der European Paintings Area und verharre vor diesem Wimmelbild. „Pride (Superbia) from The Seven Deadly Sins, after Pieter Brueghel the Elder”. Mein Nacken ist steif. Ich starre wie hypnotisiert auf die Ansammlung von außer sich geratenen Kreaturen, Dämonen, Höllenwesen vor meinen Augen. Ich kann mich nicht davon losreißen, mich nicht bewegen, wohl liegt es an der Wärme hier drin, der Saal ist ähnlich überhitzt wie meine Wohnung. Oder kommt das nur mir so vor? Ich habe Hitzeschübe, die seitlich an mir hochsteigen, als wären Rohre dort angebracht, über die sie hinein in meinen Kopf gelangen, dort sammeln sie sich wie in einem Kessel. Kopfschmerzen fahren in Wellen durch mich hindurch, von links nach rechts, von hinten nach vorne, von unten nach oben. Ich möchte den Mund so weit wie möglich aufreißen, um die Hitze und diese Schmerzen abzuführen. Vielleicht tue ich es? Halte ich den Mund weit offen? Nein. Ich stehe stumm und reglos, wie eingeschüchtert, wie an sie festkettet vor dieser Gravur, auf der sich zahllose Figuren, Orte und Situationen, Fantasien, Bauten, Landschaften, Gewässer, Viecher den Platz streitig machen, alles gleichzeitig, alles auf engstem Raum, eine Anhäufung von Barbareien, Passionen, Perversionen. Ich stehe außerhalb dieser Schreckenswelt, ich hoffe es zumindest, ich stehe alleine hier im Saal vor dem Bruegel. Mit dem Voranschreiten der Zeit aber, das fühle ich, und dieser Umstand erschreckt mich wirklich, stehe ich auch von Minute zu Minute mehr ein wenig außerhalb meiner selbst. Ich löse mich von mir ab. Ich will mich aber nicht von mir lösen. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn, und hinter der Stirn glimmt eine diffuse Angst. Kann es sein, dass dieses kindische Bild mich dermaßen in Panik versetzt? Nein, es liegt an der Hitze hier drin und am Frost dort draußen. New York kennt nun mal nur die Extreme, nichts in New York ist einfach lauwarm, alles ist zu heiß oder zu kalt, deshalb bin ich ja hier, weil ich das so mag. Ich gehöre hierher.

Swimming with the sharks. Ein Haifischbecken kurz vor dem Siedepunkt, ich mittendrin. Ich müsste jetzt endlich den Scheißfellmantel ausziehen. Doch ich bin zu müde, zu schwach, im Moment fehlt mir jegliche Kraft, zuviel Action in letzter Zeit, zuviel Blow. Du bleibst in New York, weil das Coke so billig ist und du es in jeder Grocery kaufen kannst, statt mit mir heimzufliegen, sagte Lydia. Ja, sie hatte schon recht. Aber allzu ernst meinte sie es auch wieder nicht. Es hat nichts mit den paar Lines zu tun, die ich hin und wieder hochziehe. Vielmehr gibt es keinen einzigen Grund, keinen einzigen, warum ich lieber in Österreich wäre als in New York City.

Nun aber bin ich auch ganz ohne den Flug über den Atlantik mitten in Europa gelandet. Antwerpen, 1558. Dieser Kupferstich, von dem ich nicht mehr loszukommen scheine, ist eine Weltreise, die ich mit ein paar Schritten durch die Upper East Side unternommen habe, ein Universum, das mich in sich aufnehmen will. Derweil ist es, bei Gott, nicht sonderlich groß. Es ist nicht größer als eine Schallplatte. 70.000 wurden von unserer letzten verkauft, und da kamen wir aus dem Nichts, neu in der Stadt, neu in der Szene. Und jetzt dann, unter den neuen Voraussetzungen, das nächste Album, genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Gut vorstellbar, dass den 70.000 eine Null drangehängt wird. Dann werden nicht mehr wir Vorband von Sonic Youth sein, sondern sie von uns. Die Welt ist eine Schallplatte, sie liegt mir zu Füßen. Nur im Moment ist sie keinen Meter vor meinem Gesicht an die Wand des Met gehängt, ich könnte die Hand ausstrecken und in sie hineingreifen, hätte ich die Kraft dazu. Diese übervolle Welt vor mir, eine Vorhölle, ein grauenhafter und doch anziehender Ort, abstoßend und betörend. Ich könnte das Antwerpen vor mir tagelang anstarren, hineinkippen in alle Details dieser Diablerie. Mir kommt vor, als würden sich die Wesen auf dem Stich bewegen. Sie lachen, jammern, schreien, sie kriechen über den Boden, sitzen beim Barbier, schlüpfen aus Eiern, klettern auf Bäume, scheißen von Hausmauern herunter auf ein Tablett. Sie sind nackt oder tragen Kutten, Roben, Masken, Kettenhemden, tragen Hauben, Hüte, Kappen, Ruten, Stöcke, Messinggefäße. Sie betrachten sich im Spiegel, sind entzückt von sich selbst. „Niemand mit Hochmut liebt das Himmlische und umgekehrt“ bedeutet der lateinische Text am unteren Bildrand, NEMO SUPERBUS AMAT SUPEROS, irgend so etwas. Ich wusste gar nicht, dass Pride zu den sieben Todsünden zählt? Darf man denn nicht stolz auf etwas sein? Nicht stolz auf den Erfolg, den man hat? Mir fällt es gerade schwer, darüber nachzudenken. Der Kopf funktioniert eigenartig langsam, mein Sehen, Denken, alles wie in Zeitlupe. Es muss an diesen Schmerzen liegen. Sie werden schlimmer, kommt mir vor. Ja, sie werden schlimmer. Letztes Jahr hätten wir in Antwerpen spielen sollen, das weiß ich noch. Dann wäre ich in echt dort gewesen. Doch am Tag zuvor in Leeds haben sie uns die Pässe geklaut. Die Gitarren auch, und alles, was sonst noch im Bus war, und wir kamen nicht rüber aufs Festland. Den Tourdriver habe ich auf der Stelle gefeuert. Nächstes Jahr soll der Belgien-Leg nachgeholt werden. Dann komme ich ins echte Antwerpen. Der Veranstalter wird dann eine größere Halle mieten müssen, denke ich. Vor mir weiterhin, unausweichlich, unabänderlich das irre Gewusel von Menschen, Monstern, Mischwesen. Ich längst mittendrin, wenn ich ehrlich bin, ich ein Teil der Teufelei. Und zwischen uns allen, zwischen all den Brüsten und Ärschen, den leckenden Zungen, geifernden Mäulern, den Fratzen, Fischschwänzen, Drachenköpfen, den Fantasiebäumen, Fantasiegebäuden, Fantasiebergen im Hintergrund, im Zentrum dieses großen Tumults steht eine Frauengestalt, die Personifikation der Hochmut, Lady Arrogance, an ihrer Seite ihr Symboltier, der Pfau. Sie, die Schöne, trägt spanische Hoftracht, ein enges Korsett, eine Halskrause, einen Reifrock. Sie bestaunt die eigene Eleganz in ihrem Handspiegel. Sie gibt sich selbst der Sünde hin.

Und dann, ohne Vorwarnung, greift plötzlich von hinten etwas in das Bild hinein und greift auch in mich von hinten hinein. Ein gewaltiger, übermächtiger Schatten, eine Hand, eine Faust vielleicht, etwas in der Art, etwas durch und durch Dunkles fährt in uns, zerstäubt uns, reißt uns alle von einem Moment auf den anderen auseinander, reißt uns in Stücke. Alles zerbröselt zu schwarzem Staub, eine allumfassende Finsternis setzt ein. Dazu ein Dröhnen aus dem tiefsten Inneren. In rasender Geschwindigkeit schwillt es zu einem unmenschlichen Lärm an, der alles erstickt. Es zersprengt mich und alles um mich herum. Kein Innen und kein Außen gibt es mehr. Alles ist vereinnahmt von dieser Zerstörung, alles verliert sich, die ganze Welt. Die Jahrhunderte, die zwischen mir und dem Kupferstich liegen, zerbersten wie auch die Bruchteile des jetzigen Augenblicks. Und gleichzeitig breitet sich ein infernalischer, ein alles vernichtender Schmerz in meinem Kopf aus. Superbia verschwindet, alles geht unter in dieser Tortur, nichts kann auch nur einen weiteren Moment bestehen. Ich stehe nicht länger, ich gehe zu Boden, ich taumle in das endlose Schwarz hinein, das zu allen Seiten um mich herum entsteht, ich stürze hinab in die Hölle. Nicht einen Schrei stoße ich während alldem aus. Zu schnell hat mich die Attacke überwältigt. Ich bin nicht in der Lage, einen Laut von mir zu geben. Ich bin nicht länger vorhanden, ich existiere nicht mehr. Es ist aus. Alles ist zu Ende. Antwerpen ist leergefegt.

Es dauerte über ein Jahr, bis ich mich von dem Hirnaneurysma halbwegs erholte. Überlebt habe ich die Hirnblutung, die nach dem Riss der Arterie einsetzte, nur, weil ich mitten in der Öffentlichkeit, mitten im Museum bewusstlos zusammengebrochen war und sofort behandelt wurde. Das Einsetzen des Vernichtungskopfschmerzes ist meine letzte Erinnerung an diesen Vorfall. Danach blieb lange alles schwarz in mir, leer, taub, abgestorben. Das Leben, das ich in New York gefeiert hatte, war vorbei. Heute, in dem, was ich als mein zweites Leben bezeichne, eines, von dem mir vorkommt, dass es mir geschenkt worden ist, heute kann ich zwar die Finger wieder mehr oder weniger bewegen, aber zum Gitarrespielen, wie ich es gewohnt war, wird die Koordination wohl nie mehr reichen. Ein Gitarrengott war ich einmal. Sie werden viel Geduld brauchen und täglich trainieren müssen, sagt der Arzt. Alles, was ich tue, muss ich neu erlernen. Gehen, greifen, Gedanken festhalten. Die kleinsten Fortschritte muss ich mir dabei bewusst machen, jeden noch so winzigen Erfolg als ebensolchen wahrnehmen, einen nach dem anderen. Ich darf nicht zu viel von mir verlangen, nicht zu viel erwarten, erhoffen, sagt meine Logopädin. An guten Tagen funktioniert mein Sprechen schon wieder einigermaßen flüssig. Ob ich eines Tages wieder singen kann, frage ich sie, einen Songtext nach dem anderen auswendig herunterspulen, wie ich das früher konnte? Die Logopädin lächelt. Sie ist eine wunderschöne Frau. Ja, auch singen werden Sie eines Tages wieder können, sagt sie. Eines Tages ... Niemand im Musikbusiness wartet auf mich. Längst gibt es Hunderte, die an mir vorbeigezogen sind. Niemand denkt mehr an uns. Die Platte, die ich machen wollte, die Platte, mit der ich meinen Platz ganz oben manifestiert hätte, wir haben sie nie fertiggestellt, niemand wird sie je veröffentlichen, warum auch, sie ist Schnee von gestern. Ich wurde zurück nach Österreich transportiert und bin seither nicht mehr nach New York gekommen. Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder rüberkomme. Lydia hat sich um alles gekümmert. Sie saß an meinem Bett, als ich im Krankenhaus zu mir kam. So hatte sie also doch ein bisschen Weihnachten in New York.

Und auch jetzt sitzt Lydia neben mir – in unserer neuen Wohnung in Wien-Landstraße. Es hat auch etwas Gutes, sagt sie. Ja, hat es das? In meinem Inneren weiß ich, Lydia hat recht. Und doch, ich war so nah dran, so knapp vor dem endgültigen Durchbruch. Wer weiß, was geschehen wäre, sagt Lydia. Sie legt mir die Zeitung hin. Im Feuilleton ist ein Bericht über die Bruegel-Schau in der Albertina. Pieter Bruegel der Ältere, der bedeutendste Zeichner des 16. Jahrhunderts, lese ich, Druckgraphiken, singuläre Zustände, seltene Blätter. Das Lesen strengt mich an, ich kneife die Augen zusammen. Da könnten wir nächste Woche hingehen, sagt Lydia. Sie lächelt verschmitzt. Ich liebe ihr verschmitztes Lächeln. Ich liebe alles an ihr, das habe ich ihr inzwischen auch schon oft gesagt. Jetzt aber sage ich: Zum Bruegel schon wieder, nein, bitte nicht. Ich merke, wie Lydia stolz auf mich ist, weil ich diese sieben Wörter verhältnismäßig rasch und fast ohne zu stocken über meine Lippen bringe.

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