"Der König der Katzen", Ausschnitt von Balthus

BALTHUS

Ö1 Kunstgeschichten

Michael Köhlmeier: Seelenmodell mit Katze nach Balthus

Ein Mann, eine Katze und eine Schrifttafel: Michael Köhlmeier assoziiert diese drei Bildinhalte mit dem Ich, dem Es und dem Über-Ich nach Sigmund Freud. So gerät die Beschreibung eines Bildes aus dem Jahr 1935 von Balthasar Kłossowski de Rola, genannt Balthus, zu einer psychoanalytisch motivierten literarischen Studie. Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.

Meine Mutter war gehbehindert. Ich erinnere mich an sie, wie sie mit Krücken und einem Stützapparat ging, oder später, als sie im Rollstuhl saß; ohne Hilfsmittel gehend, kenne ich sie nicht. Und meine Mutter war sehr katholisch. Sie glaubte fest an Wunder. Alle vier Jahre fuhren sie und mein Vater mit dem Auto nach Lourdes, immer im Sommer, jedes Mal versprach sie mir, dass wir beide an meinem Geburtstag im Oktober - so viel Zeit müsse ich ihr geben, damit sie sich wieder ans Gehen gewöhne - auf die Hohe Kugel wandern, das ist unser Hausberg, 1645 Meter hoch.

Sie glaubte, dass in Lourdes ein Wunder geschehe - an ihr. Wenn sie zurückkamen, ich erinnere mich, es war immer in der Nacht, standen meine Schwester, meine Großmutter und ich in der Haustür und warteten gespannt, was passieren würde. Das passierte: Mein Vater öffnete die Seitentür des Opel Rekord, hob meine Mutter aus dem Auto und trug sie ins Haus. Aber meine Mutter war nicht deprimiert oder gar ärgerlich auf ihren Gott, dass er kein Wunder hatte geschehen lassen, nein, sie war ausgezeichnet gelaunt und hat uns bis spät in den Morgen hinein erzählt, was sie und unser Vater alles erlebt hatten und was für Gedanken sie sich gemacht hatte über Gott und die Welt, weniger über Gott, viel mehr über die Welt.

Als Ersatz für unsere Bergwanderung, die wir, wie sie sagte, nun doch „um vier Jahre verschieben“ müssten, erlaubte sie mir, sie in den folgenden Tagen im Rollstuhl am Alten Rhein entlangzuschieben, wo sie mir ihre Gedanken im Detail ausbreitete.

Michael Köhlmeier

Michael Köhlmeier, 1949 in Hard am Bodensee geboren, lebt in Vorarlberg und Wien. Der hochproduktive und vielfach ausgezeichnete Autor ist auch als charismatischer Erzähler seiner eigenen Adaptierungen von Märchen- und Sagenstoffen bekannt. Bei Hanser erschienen zuletzt sein Essayband „Das Schöne. 59 Begeisterungen“ und Romane wie „Frankie“, „Matou“ oder „Bruder und Schwester Lenobel“.

Sie erzählte, sie habe sich in Lourdes mit einem blinden Mann angefreundet, einem, wie sie sich ausdrückte, „sensationellen Mann“, einem Bildhauer, der, um die Sensation vollzumachen, obendrein Katholik und Kommunist in einem sei. Und sie hätten sich in dieser Republik der Krüppel, wie sie den Gnadenort Lourdes nannte, über körperliche Mängel unterhalten, und er habe ihr ausführlich vom Blindsein berichtet. Nämlich, dass der Mangel auf der einen Seite zu einem Vorzug auf der anderen führe. Also: Der Blinde hört besser und tastet besser, er kann Geräusche und Formen aller Art besser interpretieren als ein Sehender. Das ist nun nichts Neues, das gehört zur Alltagsmythologie. Meine Mutter aber zog daraus einen Analogieschluss, nämlich: Der Lahme kann Körperhaltungen besser interpretieren als der Gehende. Unter Körperhaltungen fasste sie alles, was sich an unserer sterblichen Hülle bewegen und in der Bewegung anhalten lässt, also jede Geste und auch jede Miene.

„Denk dir“, sagte sie, „denk dir, ein Mensch verliert von einem Augenblick auf den anderen ganz und gar seine Fähigkeit, sich zu bewegen, und genau diesen Augenblick hält der Künstler fest. In diesem Augenblick ist alles enthalten, was dieser Mensch einmal war. Es muss nur richtig aus seinem Körper herausgelesen werden.“

Sie wollte sagen: Auch wenn ich jetzt nicht mehr gehen kann, irgendwann konnte ich es, also bitte, siehe in mir auch die, die ich einmal gewesen bin!

Der König der Katzen, 1935

BALTHUS

Mit dieser Erinnerung sehe ich mir die Bilder von Balthus an. Der erste Körper, bei dem mir die Theorie meiner Mutter in den Sinn kommt, war nicht ein menschlicher, sondern die Figur der Katze in dem Bild Der König der Katzen von 1935.

Fast alle Bilder, die ich von Balthus kenne, sind auf irgendeine Art und Weise unheimlich. Er ist vielleicht der unheimlichste Maler des vergangenen unheimlichen Jahrhunderts - und das nicht nur, weil er, was so augenfällig ist, seine Kunst in den Dienst einer Obsession stellte. Das Unheimliche, das wissen wir seit Freud, ist nicht das Unbekannte, das von außen in unsere Welt eindringt, ist nicht das Fremde, sondern das Bekannte, das unter uns und in uns ist und sich uns plötzlich von einer Seite zeigt, die wir bisher nicht kannten oder nicht zu kennen glaubten oder - wie Petrus den Herrn - nicht zu kennen vorgaben: das Bekannte, das wir verdrängen wollen oder bereits verdrängt haben. „Das Unheimliche“, definiert Freud, „ist das Heimliche-Heimische.“ Oder wie sich Schelling ausdrückt: „Das Unheimliche ist etwas, was im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist.“

Der König der Katzen, das, einem ersten Eindruck nach, eher zu den harmlosen Bildern des Künstlers gehört, offenbart sich mithilfe der Theorie meiner Mutter als eines der unheimlichsten; nämlich, weil das, was im Verborgenen hätte bleiben sollen, eben noch nicht ganz und gar ins Licht tritt, wir das Reich der Finsternis also noch ahnen.

Zunächst die Frage nach dem Licht: Was für ein Licht herrscht in diesem Bild? Die Schatten zeigen in einem flachen Winkel von rechts unten nach links oben. Daraus schließe ich: Mann und Katze präsentieren sich, sie werden angestrahlt; sie lassen sich anstrahlen. Was freilich ein Unsinn wäre, wäre diese Katze von unserer Welt. Keine wirkliche Katze präsentiert sich im Scheinwerferlicht. Daraus schließe ich: Die Katze ist nicht oder nicht nur als real gedacht; sie ist darüber hinaus Symbol oder Allegorie oder gar ein Dämon.

Betrachten wir nun - unter Anwendung der Theorie meiner Mutter - die Katze: In welcher Haltung ist sie auf dem Bild erstarrt? Welche Miene zeigt sie uns? Sie zeigt nämlich Miene. Ja, diese Katze zeigt Miene, und darin sehe ich eine weitere Bestätigung dafür, dass der Maler sie aus dem bloßen Tiersein ins Symbolische, Allegorische, Dämonische heben wollte. Auch wenn Katzenfreunde meinen, ihr Liebling zeige tatsächlich Miene - das ist anthropozentrischer Unsinn. Katzen haben keine Miene, wie Menschen Mienen haben; wenn wir meinen, sie hätten Mienen, vermenschlichen wir sie, dann finden wir sie drollig oder hinterlistig oder stoisch, wie eben nur Menschen drollig, hinterlistig oder stoisch sein können.

Die Katze auf dem Bild ist also nicht nur Tier, sie ist auch Dämon, und als solcher sowohl geschrumpfte Gottheit als auch verwunschener oder gar verfluchter Mensch - auf jeden Fall zur Miene fähig. Ihr Blick ist selbstbewusst, berechnend, unduldsam und grausam - in ebendieser Reihenfolge.

Die Katze drückt ihren Kopf gegen das Bein des Mannes. Der Mann belastet dieses Bein; das heißt, er stemmt sich gegen die Katze, bewusst oder unbewusst, liebevoll oder abweisend; er steht auf alle Fälle nicht so fest am Boden, wie er stehen würde, wenn er beide Beine belastete. Die Katze scheint erst ganz kurz vor ihrem Erstarren ins Bild gekommen zu sein, ein wenig von ihrem Hinterteil ist noch draußen. Während der Mann in Ruhe erstarrt ist, ist sie in der Bewegung. Ich interpretiere: Die Katze will den Mann aus dem Bild schieben. Sie will ihn verdrängen.

Der Mann steht in der Mitte des Bildes, links von ihm ist die Katze, rechts neben ihm steht ein Hocker, an den eine Schrifttafel gelehnt ist und auf dem eine Peitsche liegt. Die Katze hat den Schwanz aufgestellt. Wir Katzenliebhaber wissen: Dann fühlt sie sich wohl. Die Schwanzspitze zeigt exakt die Höhe der Schlinge der Peitsche an. Ich interpretiere: Das ist kein Zufall und auch kein nur ästhetischer Einfall. Der Neigungswinkel des Katzenschwanzes, von links unten nach rechts oben, und der Neigungswinkel der Peitsche, von rechts unten nach links oben, bilden, gedanklich weitergeführt, ein Dreieck, das Oberschenkel und Geschlecht des Mannes einschließt - also jenen Körperbereich, wo wir das Triebleben lokalisieren.

Warum fühlt sich die Katze wohl? Weil ihr Herr anwesend ist? Ein Witz lautet: Eine Katze hat keinen Herrn, eine Katze hat Personal. Die Katze auf dem Bild hat den Blick von dem jungen Mann abgewandt. Sie schaut durchdringend. Wen schaut sie an?

Sigmund Freud soll, so die Legende, zu Salvador Dalí gesagt haben, an seinen Bildern interessiere ihn weniger das Unbewusste als das Bewusste; für Dalí muss das vernichtend gewesen sein. - Was hätte Freud zu den Bildern von Balthus gesagt? Ich vermute, Balthus hätte ein ähnliches Urteil aus dem Mund des Begründers der Psychoanalyse als Kompliment empfunden.

Im Jahr 1923, also zwölf Jahre, bevor Balthus dieses Bild gemalt hat, hat Sigmund Freud sein Buch Das Ich und das Es veröffentlicht, in dem er sein Seelenmodell skizzierte, das später so berühmt werden sollte und das einem Haus gleicht, einem durchaus wohlgestalten: Das triebhafte (tierhafte) Es hockt im Keller, das bewusste Ich residiert in der Beletage und das gewissenhafte Über-Ich thront ganz oben, entweder in einem verstaubten, vernachlässigten Dachboden oder in einem sonnendurchfluteten Atelier, wo nach, wenn schon nicht glücklicher, so doch geglückter Triebverdrängung Kultur entsteht - also auch Malerei.

Balthus - ob er, als er das Bild malte, die Schriften von Freud gekannt hat oder nicht, juckt höchstens den kleinlichen Biografen - Balthus kippt das vertikale Modell in die Horizontale und entlässt es aus seiner hierarchischen religiösen Tradition. Damit verkehrt er aber die wohlgestalte Welt des Sigmund Freud. Die Katze, das Es, versucht das Ich, den Jüngling, aus dem Bild zu drängen - was allerdings wie ein Schmeicheln aussehen soll. Es soll so aussehen. Die Katze, das Unbewusste darstellend, will uns überlisten. Nachdem eine List aber ohne Bewusstsein nicht denkbar ist, müssen wir gewärtig sein: Die Katze ist nicht das Unbewusste, sie stellt es lediglich dar. Sie tut als ob. Der Name des Teufels ist Als-ob.

Welche Absicht aber verfolgt die Katze? Sie will uns beruhigen. Sie will sagen: Was auch immer an Schrecklichem du anstellst, schieb es auf mich! Sag, das Unbewusste hat dich dazu getrieben! Sag, du bist nicht oder nur eingeschränkt verantwortlich! - Die antiken Griechen nannten diese große Freisprecherin, die uns zu bösen Taten verführt, indem sie präventiv alle Schuld auf sich nimmt, Ate. Als Agamemnon in seiner Wut dem Achill die Briseïs wegnimmt und damit das griechische Herr beinahe der Vernichtung preisgibt, schiebt er die Schuld auf Ate. Ate - die Alten hatten keine bildliche Vorstellung von ihr - Ate ist selbstbewusst, berechnend, unduldsam, grausam. In ebendieser Reihenfolge. Sie sagt: Niemand kann mir widerstehen, also probier es erst gar nicht - insofern ist sie selbstbewusst. Sie sagt: Ich nehme alle Schuld von dir und lade sie mir auf, also tu! - insofern ist sie berechnend, weil sie weiß, einem solchen Angebot können wir nur sehr schwer widerstehen. Sie ist unduldsam, indem sie sagt: Du hast mir zu gehorchen! Und sie ist grausam, weil sie uns zu allen nur erdenklichen Grausamkeiten anleitet.

Das alles sehe ich in der Miene der Katze. Sie schaut nämlich mich an. Sie führt vor. Ihr Blick gilt mir, dem Betrachter. Sie verrät sich durch ihre Eitelkeit. Schau her, so mach ich das! So verführe ich dich. So verdränge ich dein Ich, das sich so gelassen, so arrogant gibt.

Balthus - ob er, als er das Bild malte, die Schriften von Freud gekannt hat oder nicht, juckt höchstens den kleinlichen Biografen - Balthus kippt das vertikale Modell in die Horizontale und entlässt es aus seiner hierarchischen religiösen Tradition. Damit verkehrt er aber die wohlgestalte Welt des Sigmund Freud. Die Katze, das Es, versucht das Ich, den Jüngling, aus dem Bild zu drängen - was allerdings wie ein Schmeicheln aussehen soll. Es soll so aussehen. Die Katze, das Unbewusste darstellend, will uns überlisten. Nachdem eine List aber ohne Bewusstsein nicht denkbar ist, müssen wir gewärtig sein: Die Katze ist nicht das Unbewusste, sie stellt es lediglich dar. Sie tut als ob. Der Name des Teufels ist Als-ob.

Welche Absicht aber verfolgt die Katze? Sie will uns beruhigen. Sie will sagen: Was auch immer an Schrecklichem du anstellst, schieb es auf mich! Sag, das Unbewusste hat dich dazu getrieben! Sag, du bist nicht oder nur eingeschränkt verantwortlich! - Die antiken Griechen nannten diese große Freisprecherin, die uns zu bösen Taten verführt, indem sie präventiv alle Schuld auf sich nimmt, Ate. Als Agamemnon in seiner Wut dem Achill die Briseïs wegnimmt und damit das griechische Herr beinahe der Vernichtung preisgibt, schiebt er die Schuld auf Ate. Ate - die Alten hatten keine bildliche Vorstellung von ihr - Ate ist selbstbewusst, berechnend, unduldsam, grausam. In ebendieser Reihenfolge. Sie sagt: Niemand kann mir widerstehen, also probier es erst gar nicht - insofern ist sie selbstbewusst. Sie sagt: Ich nehme alle Schuld von dir und lade sie mir auf, also tu! - insofern ist sie berechnend, weil sie weiß, einem solchen Angebot können wir nur sehr schwer widerstehen. Sie ist unduldsam, indem sie sagt: Du hast mir zu gehorchen! Und sie ist grausam, weil sie uns zu allen nur erdenklichen Grausamkeiten anleitet.

Das alles sehe ich in der Miene der Katze. Sie schaut nämlich mich an. Sie führt vor. Ihr Blick gilt mir, dem Betrachter. Sie verrät sich durch ihre Eitelkeit. Schau her, so mach ich das! So verführe ich dich. So verdränge ich dein Ich, das sich so gelassen, so arrogant gibt.

Das Bild trägt den Namen: Der König der Katzen. Damit ist unsere Verwirrung komplett. Wer ist der König? Der Mann oder die Katze.

Die Proportionen des Mannes sind merkwürdig verzerrt. Die Beine sind viel zu lang, sie nehmen gut zwei Drittel der Gestalt ein. Hölzern wirken sie, nicht sehr stabil. Die Hose droht den Mann von unten her zu verschlingen; sie macht auf sich selbst aufmerksam und nicht auf den Körper, den sie bekleidet, eine eitle Hose. Das Gesicht ist verdunkelt, es hat Ähnlichkeit mit einer Schaufensterpuppe - gedankenversunken, aber ohne Gedanken.

Dieser Mann ist auf eine unsympathische Weise unschuldig.

Sind wir nicht gewohnt, dass uns Unschuld rührt? Wir lassen uns doch von der Unschuld verzaubern! Die Unschuld bringt uns einen Hauch vom Paradies. Charme, dieses rätselhafte Phänomen, diese von allen menschlichen Eigenschaften begehrteste, ist er ohne Unschuld denkbar? Das Unsympathische und die Unschuld, die schließen einander doch aus! Dieser Mann hat ein schönes Gesicht, eine nette Frisur, ein schickes Jackett, eine niedliche Krawatte, weiße Hände, wahrscheinlich manikürt; er ist umgeben von Licht und Finsternis. Der Katzenkönig, der Herr des Als-ob schmeichelt um sein Bein, er hat Gesetzestafel und Zuchtpeitsche in Griffweite - und er hat von nichts eine Ahnung; er schaut uns an, als sähe er sich selbst. Und nun dämmert es uns: Auch diesen Typen hat die Mythologie vorgezeichnet: Es ist der Narziss.

Woran denkt der Narziss, wenn er sein Bild sieht? Entdeckt er in sich Neues? Nein, nein! Er ist in Gedanken versunken, aber ohne Gedanken.

Die Kinderromane Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln des englischen Mathematikers Charles Lutwidge Dodgson, der sich Lewis Carroll nannte, gehörten und gehören zu den verbreitetsten Kinderbüchern der Welt. Was man lange Zeit nicht wusste: Carroll war auch Fotograf. Und er fotografierte hauptsächlich kleine Mädchen. Erst nach seinem Tod wurden die Fotografien veröffentlicht. Es ist erlaubt, sie mit den Bildern von Balthus in Vergleich zu bringen. Was einem dabei sofort auffällt: Die Mädchen auf den Fotografien, da besteht kein Zweifel, sind sich der sexuellen Posen, die sie vorführen, bewusst. An den Bildern ist nichts mehr unschuldig. Carroll hat Verführerinnen sehen wollen, und er hat Verführerinnen gezeigt, indem er die Mädchen aufgefordert hat, so zu tun, als ob sie Verführerinnen wären.

Auf den Bildern von Balthus begegnen uns die Mädchen unschuldig. Sie sind sich ihrer Körperhaltung nicht bewusst. Ich meine damit: In dem Augenblick, in dem sie zum Bild erstarrt sind, denken sie über ihren Körper nicht nach. Ihrer Miene ist anzusehen, dass sie an alles Mögliche denken - an das Kartenspiel, das vor ihnen liegt, an die Hausaufgabe, die sie hinter sich kriegen wollen -, an alles Mögliche denken sie, nur nicht an ihren Körper und dessen Haltung. Sie sind ohne Scham, aber nicht schamlos. Sie sind ohne Scham, wie ein Mensch ohne Scham ist, der sich nicht beobachtet fühlt. Wie Adam und Eva, bevor ihnen die Schlange beigebracht hat, was Erkenntnis ist und damit auch die Erkenntnis ihrer Nacktheit. Die Sünde tritt auf, wenn Abbild und Wissen des Betrachters aneinandergeraten. Im Wissen des Betrachters, und nur dort, sind Erfahrung und triebhafte Fantasie enthalten. Auf William Blakes Gedichtsammlung anspielend, könnte man sagen: Wenn Unschuld und Erfahrung aufeinanderprallen, entsteht Schuld.

Seit Ovid und seiner ars amatoria, seit den Gemälden von Caravaggio und den Romanen des Marquis de Sade, seit den Fotografien von Lewis Carroll und den essayistischen Erzählungen von Georges Bataille - seit diesen Werken und vielen anderen noch sind wir in einen Zwiespalt gezwungen. Das Über-Ich, dieser Zwitter aus Mafioso und Engel, befiehlt uns: Entscheide dich! Aber wozwischen sollen wir uns entscheiden? Zwischen Kunst und Moral?

Halten wir es aus!

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