Schweizer Flagge

APA/KEYSTONE/MICHAEL BUHOLZER

Du holde Kunst

Von neuen Sätzen träumend …

Lyrik von Frauen aus der Schweiz

Die Sendung beginnt mit der Landschaft oder eigentlich nicht: Denn das "Landschaftsgedicht" der 1937 geborenen Baslerin Elisabeth Meylan, das nach ein paar Minuten Klaviermusik erklingt, poetisiert nicht die Schweizer Berge und Seen, sondern reflektiert über die semantische Leere des Idylls. In Erika Burkarts Lyrik wiederum ist die Natur ein Reservoir an Bedeutungen; im Gedicht "Weiss" wird das Schneien mit seiner Verschleierung der Landschaft zum Zeichen der undeutlichen Nähe des Zwischenmenschlichen.

Die in Vallader, einer noch sehr lebendigen Unterengadiner Variante des Rätoromanischen, verfasste Lyrik von Luisa Famos gleicht in ihrer knappen Zartheit der Eisblume, die in ihrem Gedicht "Die Nacht" vom Fensterglas zärtlich ins Gesicht eines Du wandert. Famos ging mit ihrer Kleinstsprache aber nicht konservierend um, sondern erweiterte formal innovativ deren schöpferisches Potenzial und machte sie so der Moderne zugänglich.

"Krankhaftes" Schreiben

Von einer "Wintersprache" ist im titellosen Gedicht Mariella Mehrs die Rede, vom Wort, das sich in Trostlosigkeit selbst verzehrt. Mehr, 1947 in Zürich geboren, wurde als Angehörige der Minderheit der Jenischen Opfer des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse", das Kinder zwangsweise von ihren Eltern trennte. Sie wuchs in 16 Kinderheimen und drei Erziehungsanstalten auf. Viermal wurde sie in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen (wo man ihren Wunsch zu schreiben als krankhaft "diagnostizierte"), 19 Monate verbrachte sie im Gefängnis. Ab 1975 publizierte sie, zuerst journalistisch, dann schriftstellerisch. Sie schrieb Romane, Theaterstücke, Erinnerungstexte und Gedichte und erhielt für ihre schriftstellerische Leistung und ihr minderheitspolitisches Engagement den Ehrendoktor der Universität Basel.

In Annemarie von Matts 1944 entstandenem Gedicht (auch ohne Titel) taucht der Schnee als flüchtiger Träger von Erinnerungen auf, ein buchstäblicher Träger, mit dem Steinchen ins Haus gelangen, die zum Platzhalter des abwesenden Du werden. Annemarie von Matt, geboren 1905, zählt mit ihrem bildnerischen Werk, in das sie auch teilweise ihre sprachliche Arbeit integriert hat, zu den Vorgängern der Concept Art.

Leben wir

Die zweite bildende Künstlerin unter den Dichterinnen der Sendung ist Meret Oppenheim. Sie gehört zu den bedeutendsten Vertreterinnen des Surrealismus, berühmt u. a. für ihre mit Pelz überzogene Teetasse. In ihrem kurzen Gedicht spürt das lyrische Ich dem eigenen Blick nach und konstatiert vor Wald und Mond: "Ich fühle meinen Kompass sich gegen diese nahrhaften Sprichwörter richten."

Französisch ist auch die Originalsprache der Lyrik Edith Boissonnas’, die gleich mit zwei Gedichten in der Sendung vertreten ist. Edith Boissonnas, Jahrgang 1904, lebte zeitweilig in Paris, wo sie zum Kreis der Nouvelle Revue Française um Jean Paulhan und Georges Bataille gehörte. Ihr erster Gedichtband, "Paysage cruel" ("Grausame Landschaft"), erschien 1946 bei Gallimard. Von ihr stammt das letzte Gedicht der Sendung, das aus Fragen ohne Fragezeichen besteht, die auch wie eine unsicher hergesagte Aufstellung gelesen werden können und die in den gleichermaßen als Frage wie als Aufforderung interpretierbaren Satz münden: Leben wir.

Schnee und leise Selbstbefragung - das lässt an einen anderen großen Schweizer denken, Robert Walser: "Die Unerschütterten, die Sicheren brachten nie etwas Grosses zustande. Verlegene sind’s, die die Verlegenheiten lösen."

Gestaltung