Gedanken

Das Radio im Blick

Der Filmemacher Jakob Brossmann über den Wunsch, gehört zu werden.

„Hier Radio Delta Lampedusa, Giacomo am Mikrofon! Hier ist Fashion-Music, auf 95.0 FM…“ Über die treibenden Bässe des neuesten Tanz-Hits spricht ein junger Mann, lässig schiebt er zwischendurch die Regler hinauf. Durch ein großes Kunststofffenster blickt er hinaus auf das Städtchen Lampedusa mit seinen circa 5.000 Einwohner:innen, dahinter nichts als Meer. Giacomo improvisiert frei und kommentiert das Leben auf der winterlichen Insel in dieser Stunde, in der er aus dem kleinen Studio senden kann.

Radiostation als Pulsgeber

Ich lernte den winzigen Sender im Rahmen der Dreharbeiten zu meinem ersten Dokumentarfilm Lampedusa im Winter kennen. Etwas berührte mich, als mich Giacomo in seine Welt mitnahm. War es die Ernsthaftigkeit, mit der er trotz eines höchst überschaubaren Publikums an die Sache heranging? War es etwas an der Logik des Radios selbst? Die Faszination übertrug sich auch auf das Material, das wir drehten, und so wurde die kleine Radiostation zu einem Pulsgeber für den Film.

Als ich mit David Paede die Idee für den Radiofilm über Ö1 entwickelte, war mir noch gar nicht klar, dass es sich um ein wiederkehrendes Motiv handelte: Der Mensch vor dem Mikrofon und das Sprechen zu einer unsichtbaren Gruppe üben eine unerklärliche Anziehung auf mich aus. Ein eigenartiger Zauber entsteht, wenn man diesen Vorgang auf der Lein wand zeigt und die Radiomacher:innen mit Anteilnahme beobachtet. Viele Stunden durfte ich über zweieinhalb Jahre im Funkhaus verbringen, bevor Gehört, Gesehen fertiggestellt war. Ich konnte Meister:innen ihres Fachs vor Hunderttausenden sprechen und Künstler:innen um einzelne Töne ringen sehen: vom Live-Wahljournal bis zur Produktion einer neuen Signation.

Die Verbindung mit Film und Radio

Doch ich bin mit dieser rätselhaften Leidenschaft zum Glück nicht allein. Viele Filmschaffende (und wohl auch ihr Publikum) scheinen sie zu teilen, denn ich entdeckte in der Kinogeschichte unzählige große und kleine Reverenzen, Reflexionen und staunende Liebeserklärungen an das Radio. Ich begann, „Radiofilme“ zu sammeln – und je mehr es wurden, desto mehr fieberte ich dem Jubiläum „100 Jahre Radio“ entgegen, denn ich hatte eine Idee: Mit Globart, einer Organisation, die sich den Austausch zwischen Kunst, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zur Aufgabe macht und die ich leiten darf, formulierte ich einen Vorschlag an Ö1 und das Filmarchiv – und nun ist es Realität: das RadioFilmFestival! Zehn Filme, große Meisterwerke der Filmgeschichte wie The Great Dictator oder Good Morning Vietnam, dokumentarische Meilensteine wie La Maison de la Radio oder berührende Kinomomente wie Die Geträumten. Und es gäbe noch so viele fantastische Radiofilme mehr …

Was ist es, das uns an dem Blick auf das Radio so fasziniert? Warum kommen Filmemacher:innen immer wieder auf das Radio zurück? Geht es darum, dem Unsichtbaren ein Bild, ein Gesicht zu geben? Ist es die Herausforderung, mit der Macht des Sendens umzugehen? Oder das Ethos, das Sendebewusstsein der Radiomacher:innen? Ich glaube mittlerweile, es ist eine noch grundlegendere Wesensart des Menschen, die wir hier sehen und die uns tief berührt: Wir alle haben die Sehnsucht, gehört zu werden. Und wenn Filmschaffende mit Empathie den Moment vor dem Mikrofon beobachten, können wir im Kino an der Hoffnung teilhaben, dass sich diese Sehnsucht erfüllen könnte. Dass da jemand ist, der zuhört. Wirklich hinhört.

Gestaltung: Jakob Brossmann