Tonspuren

Dominique Manotti, die Grande Dame des französischen Roman noir

„Erzählen heißt Widerstand leisten“

Viel braucht es nicht, um Frankreichs Vorstädte explodieren zu lassen. Ein Polizeiübergriff, ein toter algerischstämmiger Jugendlicher -und bürgerkriegsähnliche Zustände sind programmiert. Das wissen auch die Rechtsextremen: Gibt es blutige Unruhen, werden sie ihre Remigrationsfantasien leichter umsetzen können. Was läge also näher, als ein bisschen nachzuhelfen? Marseille.73 heißt Dominique Manottis neuester Roman, der vom Beginn des Rassemblement National (damals noch Front National) im Jahr 1972 genauso erzählt wie vom Kampf nordafrikanischer Migrant:innen, deren Arbeitskraft man gern ausbeutet, denen man im Gegenzug aber keine Rechte gewähren will.

Mit ihrem trotz der zeitlichen Distanz hochaktuellen Roman legt die Autorin nicht nur die gewalttätigen Wurzeln der Partei offen, die im Sommer 2024 erstmals zur stärksten politischen Kraft im französischen Parlament wurde. Die heute als Doyenne des französischen Roman noir geltende Autorin kehrt auch zu ihren eigenen politischen Wurzeln zurück. Unter ihrem bürgerlichen Namen Marie-Noëlle Thibault kämpfte die auf den Barrikaden des Pariser Mai ’68 gestählte Gewerkschafterin für die Rechte der ausgebeuteten illegalen Migrant:innen des Pariser Textilsektors.

Paradoxerweise ließ ausgerechnet der historische Wahlsieg der Linken unter François Mitterrand im Jahr 1981 ihre Träume von einer gerechteren Gesellschaft platzen: Für die an der Universität Paris 8 lehrende Wirtschaftshistorikerin ist Mitterrand nicht nur tief in die Verbrechen der französischen Armee während des algerischen Unabhängigkeitskriegs verstrickt, sondern vor allem auch ein Vertreter des Neoliberalismus, der dem Finanzmarkt-Kapitalismus in Frankreich Tür und Tor geöffnet hat.

Thibault zieht sich enttäuscht und deprimiert aus dem Kampf auf der Straße zurück, den sie zuvor mit größter Leidenschaft geführt hat. „Ich war verzweifelt“, fasst sie das darauffolgende Jahrzehnt lapidar zusammen. 1993 verändert ein Buch ihr Leben von Grund auf: Die Lektüre von James Ellroys L.A. Confidential ist ein Schock, der ihr den Weg aus der Lebenskrise weist: „Ich hatte zum ersten Mal das tief empfundene Gefühl, die Vereinigten Staaten zu verstehen, und sagte mir: Wenn so etwas möglich ist, dann lohnt es den Versuch. Und wenn es eine Erfahrung gibt, von der ich erzählen kann, dann ist es der Kampf für die illegalen Textilarbeiter.“ Sombre Sentier, auf Deutsch Hartes Pflaster, lautet der Roman, den Manotti zwei Jahre später veröffentlicht. Ein lupenreiner Noir von einer Härte, Rasanz und Dichte, die ihresgleichen suchen. Kritiker:innen und die Leserschaft sind auf Anhieb begeistert. Als Noir-Autorin Dominique Manotti spürt die Universitätsdozentin Marie-Noëlle Thibault seither in hochpolitischen Romanen den Rissen im sozialen Gewebe und den Sprüngen in den Fassaden Frankreichs nach. Auf der anderen, der dunklen Seite der Macht richtet sie den Blick bis weit hinunter zu den Fundamenten der französischen Nachkriegsgesellschaft, die oft genug auf morastigem Grund errichtet wurden.

Den „Tonspuren“ gewährt sie tiefe Einblicke in ihr Schreiben sowie ihren politischen und intellektuellen Werdegang. „Erzählen heißt Widerstand leisten“, lautet das Motto eines ihrer Romane. Es steht über Manottis gesamtem literarischen Schaffen.

Gestaltung: Georg Renöckl