Inklusions-Radiokolleg: In Eigenregie leben
14. Jänner 2025, 11:17
Gefangen im familiären Auffangnetz: Lisa Steiner berichtet, wo Familien für den Sozialstaat einspringen müssen.
Lisa Steiner:
Ich bin 42 Jahre alt, ich bin Journalistin. Und ich weiß nicht, was ich ohne meine Mama machen würde. Okay, das klingt jetzt nicht so dramatisch, ist es aber. Weil ich bin behindert und kann mein Leben derzeit allein nicht finanzieren. Das ist oft scheiße. Fürs Selbstbewusstsein, fürs Verhältnis zur Mama und zur Familie und überhaupt. Wenn es mir so geht, wie geht es dann anderen Menschen mit Behinderung in Österreich? Was ist, wenn man keine Eltern hat, die gut für einen sorgen können? Und wie geht es Eltern von behinderten Kindern? Fragen über Fragen. Und die führen mich nach St. Pölten in ein Einfamilienhaus, zu Hannes und seinem Sohn Moritz.
Ich bin der Moritz und bin 16.
- 16? 17 bist du!
- So, hast du noch eine Frage gestellt? Jetzt bemüh dich mal … Du siehst schon, wie schwierig es ist, über Gefühle zu reden.
Lisa Steiner:
Ich wollte wissen, wie Moritz seine Beziehung zu seinem Vater sieht. Da kommen starke Gefühle. Das weiß ich von mir selbst. Abhängig zu sein von den Eltern, da kommen auch Wut, Angst und Ohnmacht. Alles Emotionen, die mich während der Arbeit an diesem Beitrag persönlich begleitet haben. Und auch Hannes kennt das, seit Moritz Geburt vor 17 Jahren.
Hannes:
Down-Syndrom-Kinder sind dann selten gesund. Bei Moritz ist das Problem eine Hypotonie und die Lunge. Und er hat natürlich nach vier oder fünf Tagen einen Atemstillstand gehabt. Dann war er in einer Intensivstation, mit Notarzt und allen lebensrettenden Maßnahmen von meiner Frau und mir. Und nachher hat er ein Überwachungsgerät gehabt, das piepst. Dann hat er mehr oder minder ein Jahr, glaube ich, dass wir nicht viel geschlafen haben und an diesem Überwachungsgerät geklebt sind. Ja, einfach das ganze Leben ist explodiert. Auch beide unsere Jobs, es ist uns in diesem Jahr klar geworden, dass die Gabi nach der Karenz zwar in diesen Job zurückgehen wird, aber das nicht langfristig wird machen können. Wir müssen uns einfach als Familie ganz neu erfinden.
Lisa Steiner:
Ohne ganz neu erfinden geht's nicht. Es gibt zwar finanzielle Hilfen, in Moritz' Fall mehr Familienbeihilfe und Pflegegeld. Aber ohne Eltern, die viel Zeit, Liebe, private Initiative und noch mehr Geld in die Entwicklung ihrer Kinder mit Behinderung stecken, funktioniert wenig. Hannes und seine Frau Gabriele haben beide ihre Jobs aufgegeben. Hannes ist Lehrer geworden. Gabi hat nach einem Burn-out und Depressionen auf Alltagsbegleitung umgeschult. Denn die Eltern müssen das ausgleichen, wo das System versagt. Bei der inklusiven Bildung beispielsweise.
Hannes:
Im Nachhinein würd ich sagen, ist im Integrations-Kindergarten der Moritz zu wenig integriert worden. Die haben in der Gruppe eine Teilung gemacht zwischen den Kindern mit Behinderung und den Kindern ohne Behinderung. Aber das haben wir im Kindergarten noch weniger begriffen als wie dann nachher. Wir haben es dann versucht mit einer Integrationsklasse in einer Volksschule. Das wäre deshalb so cool gewesen, weil das wäre nahe auch beim Wohnort, mit vielleicht selber in die Schule gehen mit der Zeit usw. Und das hat überhaupt nicht funktioniert für den Moritz. Da waren einige aus seinem Kindergarten, das war dann auch eine grausliche Trennung. Weil die vom Kindergarten dann weg waren, als wir gesagt haben, dass das nicht geht. Und die Alternative war dann einmal Sonderschule.
Lisa Steiner:
Insgesamt hat Moritz zwölf Jahre die Schule besucht. Auch das geschuldet kämpferischen Eltern. Gelernt habe sein Sohn in der Sonderschule wenig. Ein Versuch mit einer Montessorischule ging völlig schief, erzählt Hannes. Was Moritz jetzt kann, verdankt er dem Homeschooling durch seine Eltern während Corona. Auch vieles andere hat er nicht dort gelernt, wo Gleichaltrige es tun. Er hatte einen Privatlehrer für Schwimmen, Skifahren. Jetzt geht er zweimal in der Woche in einen Tanzkurs in Wien, spielt Schlagzeug. Auch Freizeitassistenz muss in dem Bezirk, in dem Moritz lebt, privat bezahlt werden. Was das in Summe ausmacht, mag Hannes nicht ausrechnen. Aber sicher mehrere tausend Euro im Jahr. Als Moritz noch jünger war, war es noch mehr. Viel Geld floss vor allem in medizinische Versorgung. Wenn Hannes an Moritz‘ Zukunft denkt, geht es ihm nicht gut.
Hannes:
Ich hab Angst, dass er entweder in eine Tagesstätte kommt, die ihm nicht gefällt. Oder dass er irgendeine Art von Arbeit oder Arbeitsplatz hat, die ihm gar nicht gefällt. Einfach nur, dass er halt irgendwas macht. Ich glaube auch, dass das wahrscheinlich ein bissl passieren wird. Und ich hoffe, dass der Moment, wo er sagt, er will jetzt ausziehen... Auf der einen Seite hoffe ich, dass er kommt. Auf der anderen Seite hoffe ich, dass ich noch ein paar Jahre Zeit hab. Weil wie das dann weitergeht, das macht mir auch einfach Angst. Weil in vielen Wohnsituationen, die ich gesehen hab, mir vorkommt, dass das ein bissl ein Wegsperren ist. Wo der Moritz nicht am Abend in ein Lokal gehen kann, wo er, wenn er mit dem Radl wegfährt, nie wieder zurückkommt, weil das hoch auf einem Berg liegt und die alle sehr einsam liegen.
Lisa Steiner:
Einsam, weggesperrt, ohne eigenes Einkommen, abhängig vom Goodwill des Sozialstaates - genau so sollten Behinderte nicht leben. 2008 hat Österreich die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Darin steht: Behindertenrechte sind Menschenrechte. Doch Papier ist geduldig, besonders in Österreich. Seit 2008 sind wir zweimal von den Vereinten Nationen auf die Umsetzung geprüft worden. Zweimal lautete das Ergebnis, es gibt enormen Handlungsbedarf. Persönlich würde ich sagen: beschämende Vollkatastrophe. Vor allem unser Bildungssystem ist nicht inklusiv. Frauen mit Behinderungen sind mehrfach benachteiligt. Zu viele Menschen wohnen immer noch im Heim oder in Wohngemeinschaften. Persönliche Assistenz ist Ländersache, ungleich gut ausgebaut und für Betroffene kompliziert zu bekommen. Finanzielle Selbstbestimmung de facto nicht existent. Behinderte haben oft kein Einkommen, sondern sind mit einem Fleckerlteppich aus Zuwendungen und Taschengeld konfrontiert. Hannes ist erst Mitte 50. Aber er wird irgendwann nicht mehr da sein. Moritz wird jemand anderes brauchen, der ihn dann rechtlich vertritt, einen Erwachsenenvertreter.
Hannes:
Mir rennt jetzt die Ganslhaut auf. Ich weiß auch, dass man den Erwachsenenvertreter nicht bestimmen kann, aber dass der Moritz in gewisser Weise mitreden kann. Und wir hoffen, also er hat Cousins und Cousinen, dass wir da vielleicht jemanden dann einmal anregen auf dieses Thema hin. In Wirklichkeit schieben wir es noch ein bisschen vor uns her. Wir sagen, wir lösen die Probleme der Reihe nach. Jetzt machen wir das mit dem Übergang von Schule zum Erwachsenenwerden und dann machen wir das Nächste. Aber alles, wo wir uns informiert haben, bei Rechtsanwälten, bei Notaren ist furchtbar, furchtbar.
Lisa Steiner:
Ich habe selber Gänsehaut und echte Panikgefühle. Jedes Mal, wenn ich daran denke, dass meine Mama nicht mehr da sein könnte. Und sie ist älter als Hannes. Dass diese Ängste leider berechtigt sind, sehr berechtigt, bestätigt Norbert Krammer. Er ist Armutsexperte beim Verein Vertretungsnetz, einem Zusammenschluss von Erwachsenenvertretern, früher Sachwalter. Seit die ÖVP-FPÖ-Regierung 2019 die Sozialhilfe reformiert hat, häufen sich Fälle wie folgender bei Krammer.
Norbert Krammer:
Wir vertreten den Herrn A., der Mitte 30 ist und aufgrund seiner Behinderung als arbeitsunfähig eingestuft wird. Er möchte sich eine Wohnung anmieten, weil der derzeitige Wohnort, das ist ein Sozialzentrum für ältere Menschen, für ihn nicht passend ist. Wenn er das beim Sozialamt einreicht, weil er mit seinem eigenen Einkommen nicht rauskommt, dann werden ihm 363 Euro abgezogen, weil er seinen Unterhaltsanspruch gegenüber seinem Vater noch nicht geltend gemacht hat. Der Vater hat selbst eine Invaliditätspension. Und man kann sich vorstellen, dass wenn er 363 Euro an den Sohn auszahlen muss, dass es für ihn eine ganz schwierige Lebenssituation ist und auch für die Beziehung sehr problematisch.
Lisa Steiner:
Mehr als problematisch, würde ich meinen. Ich mag nicht gerichtlich gezwungen werden, von Familienmitgliedern Geld einzufordern. Ich mag wie ein erwachsener Mensch behandelt werden und zumindest für meine Sozialhilfe selbst verantwortlich sein. Leider sieht das das Unterhaltsgesetz in Österreich anders. Auch Nichtbehinderte, die nicht für sich selbst sorgen können, müssen als Erwachsene zuerst ihre Eltern um Unterstützung bitten. Sowohl Sozialhilfe als auch Unterhaltsgesetz sind reformbedürftig. Dass diese Reformen rasch kommen, hält Krammer für unwahrscheinlich. Obwohl beim Unterhaltsgesetz Pläne dafür schon ausgearbeitet in den Schubladen des Justizministeriums liegen.
Norbert Krammer:
Ich finde es sehr unrealistisch, dass die Sozialhilfe humaner gestaltet werden soll. In der öffentlichen Diskussion gibt es ja zum Teil gehässige Diskussionen über Sozialhilfe-BezieherInnen. Und auch beim letzten Nationalratswahlkampf waren Sozialhilfe-BezieherInnen nicht unbedingt als geschätzte Bürger des Landes kommentiert.
Lisa Steiner:
Für Behinderte wie mich und Moritz sollte aber ohnehin nicht die Sozialhilfe zuständig sein. Sie ist als Nothilfe für Menschen konzipiert, die kurzfristig ihre Existenz nicht sichern können. Das müssen sie auch immer wieder beweisen. Dass es für Menschen mit Behinderung eine andere Art der existenziellen Sicherung braucht, ergibt sich auch aus der Behindertenrechtskonvention.
Norbert Krammer:
Ich seh in dem Fall den Knackpunkt im Artikel 19 der Konvention. Und in letzter Zeit kommt der immer mehr in die öffentliche Diskussion. Das heißt, das Recht, dass jede Person und auch Menschen mit Beeinträchtigungen bestimmen können, wo und mit wem sie leben können. Das muss natürlich dann auch finanziert werden, dass man das versucht umzusetzen. Die Sozialhilfe selbst ist ein schwieriges Instrument und auch falsch.
Lisa Steiner:
Vieles läuft falsch für Menschen mit Behinderungen in Österreich. So viele erwachsene Behinderte sind von ihren Eltern abhängig wie Moritz und ich derzeit. Wir haben es aber gut, wir haben Eltern erwischt, die gut gebildet sind und finanziell nicht allzu schlecht dastehen. Wären wir in ein anderes Elternhaus geboren, würden wir vielleicht schon lange im Heim wohnen. Für mich eine schlimme Vorstellung und gleichzeitig Realität für viele. Wie man damit umgehen kann? Hannes sagt, er denkt in kleinen Schritten an die Zukunft. Erst mal den Übergang ins Erwachsenenleben schaffen mit Moritz, dann weitersehen. Den gemeinsamen Alltag genießen, so oft und so lange es geht. Das heißt nicht nur Tanzkurs, sondern mitunter auch Clubbing in Wien.
Hannes:
Was machen wir als Nächstes gemeinsam, Moritz? Am Freitag?
Moritz:
Freitag? Nach Wien tanzen.
Hannes:
Zuerst gehen wir tanzen und wo gehen wir dann hin?
Moritz:
Zug.
Hannes:
Wir fahren mit dem Zug. Mit dem Zug zur Oper. Dann tun wir tanzen und was machen wir am Freitag noch? Nächsten Freitag, was machen wir da noch? Die Daniela geht mit, der Daniel geht mit.
Moritz:
Eisberg.
Hannes:
Zum Eisberg in die Arena gehen wir. Tanzen.
Der rollende Papa.
Michael Kohler hat mit Franz-Joseph Huainigg über das Elternsein mit Behinderung gesprochen.
Franz-Joseph Huainigg:
Da haben wir das erste Mal die Katharina in der Hand gehabt. Das war großartig. Das war ein unglaubliches Erlebnis, ein Geschenk.
Michael Kohler:
Das eigene Kind in den Händen zu halten, ist ein Geschenk. Besonders, wenn man lange darauf gewartet hat. So wie Franz-Joseph Huainigg. Er ist Autor und arbeitet im ORF zu den Themen Barrierefreiheit und Inklusion. Seine Frau und er wollten immer Kinder. Bis sie ein Kind vom Jugendamt zur Adoption angeboten bekamen, hat es gedauert.
Franz-Joseph Huainigg:
Aber eines Tages, ich war gerade bei der Arbeit und wollte heimgehen, hat das Telefon geläutet und da war das Jugendamt. Und die haben gesagt: „Wir haben ein Kind für Sie, ein Mädchen.“
Michael Kohler:
Sie holten ihre Tochter Katharina im Krankenhaus ab. Von einem Tag auf den anderen Tag waren sie Eltern.
Franz-Joseph Huainigg:
Und das hat unser Leben völlig auf den Kopf gestellt, es war nur mehr die Katharina im Vordergrund.
Michael Kohler:
Auf Tochter Katharina folgte ein Pflegekind. Für die Kinder gehört Franz-Josephs Rollstuhl zum Alltag dazu. Er erinnert sich an ein Erlebnis am Spielplatz: Ein Kind fragt Katharina, was ihr Vater habe.
Franz-Joseph Huainigg:
Da hat die Katharina gesagt: „Ein Handy!“ Genau, für sie war meine Behinderung ganz selbstverständlich.
Michael Kohler:
Die Menschen in seinem Umfeld hätten positiv auf seinen Kinderwunsch reagiert, erzählt Franz-Joseph. Nur beim zweitem Kind waren alle etwas vorsichtiger.
Franz-Joseph Huainigg:
Da war schon eine Diskussion in der Familie: Ist das nicht zu viel? Ist das nicht eine Überforderung? Tut ihr euch da nicht zu viel an? Alle haben gesagt, sie haben keine Zeit, wir müssten das selbst machen. Da wollten sie uns wohl abschrecken, sie haben dann aber eh geholfen. Aber wir waren überzeugt davon, dass das machbar ist, und wir haben’s dann auch gemacht.
Michael Kohler:
Damit Elternsein mit Behinderung funktioniert, brauche es bestimmte Rahmenbedingungen.
Franz-Joseph Huainigg:
Bei uns war natürlich eine gute und stabile Familie da, die uns unterstützt hat, damit nicht alles bei meiner Frau hängengeblieben ist.
Michael Kohler:
Franz-Josephs Frau, Judit, hat keine Behinderung. Wer nachts aufsteht, wenn eines der Kinder etwas braucht, war bei ihnen klar, lacht Franz-Joseph.
Franz-Joseph Huainigg:
Bei anderen Paaren kann man sich das aufteilen. Das ist bei uns in der Form nicht gegangen.
Michael Kohler:
Dafür waren andere Dinge möglich: Franz-Josephs Frau hat zum Beispiel ein Seil an der Wiege befestigt. So konnte er Katharina hin- und herwiegen.
Franz-Joseph Huainigg:
Sie ist immer auf dem Rollstuhl und auf dem Fußbrett gesessen als Taxi. Das war ein Vorteil, den viele Kinder sonst nicht gehabt haben.
Michael Kohler:
Franz-Joseph hat persönliche Assistenz. Diese Menschen können für die Kinder eine Bereicherung und wichtige Bezugspersonen sein. Gleichzeitig fällt auch der Abschied schwer, wenn eine persönliche Assistentin geht.
Franz-Joseph Huainigg:
Und was ich auch gemerkt habe, dass es schon was ausmacht, wenn immer eine dritte Person in der Familie ist, dass man nie wirklich alleine ist.
Michael Kohler:
Vor allem sein Sohn würde manchmal einfordern, auch alleine mit Mama oder Papa was zu besprechen, erzählt Franz-Joseph Huainigg:
Franz-Joseph Huainigg:
Das ist positiv, aber man muss schauen, wo man Grenzen zieht.
Auf den Schulball bin ich nie gegangen.
Lara Egger und Daniela Rammel über die Teenagerjahre von kleinwüchsigen Menschen.
Lara Egger:
Meer oder Berge? Ich würde sagen Meer, weil ich mag schwimmen generell und auch tauchen.
Daniela Rammel:
Kaffee oder Tee? Das ist einfach Kaffee.
Lara Egger:
Kaffee, ja.
Ein kurzer Wordrap zum Aufwärmen. Daniela Rammel und Lara Egger treffen sich an einem Donnerstagnachmittag im Oktober zum ersten Mal. In einem Seminarraum des ÖZIV- Bundesverbandes, einer Interessensvertretung für die Anliegen von Menschen mit Behinderung, ziehen sie Fragen aus einer Box.
Daniela Rammel:
Diesen Sport liebe ich. Puh, ich mache im Moment fast gar keinen Sport, leider. In meiner Jugend war ich viel inlineskaten.
Lara Egger:
Ich spiele zurzeit Tennis. Ich liebe Tennis, weil es macht mir sehr viel Spaß und man kommt auch gut in Bewegung. Selbstbestimmung ist für mich, sein Leben zu leben, wie man es halt für sich gerne möchte.
Daniela Rammel:
Ja, also ich finde auch, Selbstbestimmung hat auch vieles mit Barrierefreiheit zu tun. Also wenn Sachen barrierefrei sind, können wir zum Beispiel als kleinwüchsige Personen gewisse Sachen machen oder eben halt auch nicht.
Zur Barrierefreiheit zählt etwa, dass Geräte wie Bankomaten auch von einer geringen Höhe aus erreichbar sind. Daniela Rammel arbeitet beim ÖZIV in der Öffentlichkeitsarbeit. Lara Egger trifft sie an ihrem Arbeitsplatz, um mit ihr über ihre Jugend zu sprechen.
Daniela Rammel:
Ich bin die Daniela Rammel, ich bin 46 Jahre. Ich bin eine kleinwüchsige Frau, ich lebe in Wien, hab einen Partner, arbeite auch in Wien.
Lara Egger:
Ich heiße Lara Egger, ich bin 17 Jahre alt und ich bin Schülerin des BRG 18 und besuche auch seit sechs Jahren das Schulradio.
Lara Egger und Daniela Rammel trennen 29 Jahre, aber sie haben auch einiges gemeinsam. Beide sind ca. 1,30 m groß, beide bezeichnen sich als Langschläferinnen, beide haben Schulen in Wien besucht.
Daniela Rammel:
Ich war eigentlich immer die Einzige mit einer Behinderung. Bis zur Handelsschule, weil da bin ich dann in die Ungargasse gegangen, eine der ersten Integrationsschulen. Da waren dann SchülerInnen mit unterschiedlichen Behinderungen in der Schule. Und das war für mich eigentlich auch ziemlich gut, dass halt das Augenmerk nicht immer nur so auf mich gerichtet ist, beziehungsweise man einfach eine barrierefreie Umwelt dort gefunden hat oder zumindest halbwegs barrierefrei. Was ja in den anderen Schulen oft gar nicht war. Eben, viele Stufen, kein Aufzug, alles hoch angerichtet, Waschbecken, Klos usw. Aber ich bin eigentlich ganz gut zurechtgekommen. Also man denkt sich immer so, ja wegen mir müssen die jetzt da nicht alles umbauen oder anders machen. Ich muss mich anpassen. Und ich seh das halt heute ein bisschen anders.
Lara Egger:
Ich kann da nur zustimmen. Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, wo ich überhaupt keine kleinwüchsige Person kannte. Und habe gedacht, okay, wenn niemand da ist, der das versteht, muss ich mich halt anpassen und das Leben leben, wie es halt die anderen leben. Aber ich bin jetzt auch nicht so eine Person, die sagt: Ja, okay, ich bin kleinwüchsig, ich brauche jetzt jemanden, der auch kleinwüchsig ist, um darüber zu sprechen. Ich hatte halt das große Glück, dass mich alle akzeptiert haben, auch die Lehrer. Nicht jeder hatte das Glück.
Lara spielt einmal pro Woche Tennis. In der Schule versucht sie möglichst viele sportliche Aktivitäten auszuprobieren. An den Turnunterricht erinnert sich Daniela mit gemischten Gefühlen zurück.
Daniela Rammel:
Ich habe halt alles mitgemacht, auch im Turnen. Nur manche Sachen habe ich mich zum Beispiel nicht getraut. Also Ringe, da konnte ich mich halt nicht halten. Und manche Lehrerinnen waren dann schon eher uneinsichtig und haben gesagt: „Ja, wieso? Du musst das trotzdem machen!“ Und das war halt dann für mich schon noch ein bisschen schwierig, dass ich da gezwungen werde quasi.. Und ich glaube, mittlerweile ist das Lehrpersonal eher auch ein bisschen mehr aufgeklärt. Und früher war das, glaube ich, nicht so, ja.
Lara Egger:
Ich habe schon das große Glück, dass mich die Turnlehrer speziell unterstützen und mir sagen: „Ja, wenn du es nicht kannst, dann mach es nicht, ist überhaupt kein Problem.“ Aber ich versuch es halt trotzdem immer zu machen, weil bei Turnen zählt es ja immer, dass man die Sachen ja auch versucht.
Im Gespräch über die Jugend darf folgende Frage nicht fehlen:
Lara Egger;
Wie war das Kennenlernen von Jungs?
Daniela Rammel:
Ja, also ich hatte schon immer Kontakt auch zu Jungs. Aber es war halt immer alles freundschaftlich, kumpelhaft. Man hat halt Spaß gehabt, aber mehr ist dann halt teilweise dann nicht draus geworden. Wobei es von meiner Seite halt wahrscheinlich schon ein Interesse gab, aber dann von der anderen Seite nicht. Ja, das war eigentlich schon schwierig. Aber so hatte ich halt schon immer Kontakte zu allen Menschen und war eigentlich schon immer irgendwo dabei und jetzt nicht so ausgeschlossen.
Viele glauben, dass die Körpergröße für Beziehungen eine Rolle spielt. Daniela sieht das anders:
Daniela Rammel:
Mein Freund ist 1,90 m. Am Anfang war es für mich ja auch komisch, mit ihm durch die Straßen zu gehen, Hand in Hand oder so, aber für ihn wahrscheinlich auch. Aber mittlerweile habe ich mich ja da auch selber dran gewöhnt. Aber es ist halt schon ein Riesenunterschied. Aber das gehört auch so. Das ist auch gut so.
Beim Shopping erleben beide, damals wie heute, so manche Herausforderung. Hosen und Pullover müssen oft gekürzt, nach Schuhen und eleganter Kleidung länger gesucht werden.
Daniela Rammel:
Also so zum Beispiel Ballkleider. So schick, also das ging bei mir auch nicht. Weil du musstest halt quasi eines anfertigen lassen, weil die Kleider von der Stange, die passen halt nicht, ja. Und geschweige denn eben Schuhe wieder, irgendwelche Schuhe mit Absätzen oder schöne Ballerinas oder halt schönere Schuhe. Sneakers eben geht halt einfacher. Aber so bin ich immer hinten rausgerutscht und hab vorne irgendwas reingesteckt. Aber das geht halt nicht, zum Beispiel Schulbälle habe ich auch gemieden eigentlich. Also ich bin nie irgendwie zu so einem Schulball gegangen.
Was die beiden im Alltag an öffentlichen Plätzen oft erleben, sind die Blicke von anderen Menschen.
Lara Egger:
Wie gehst du und gingst du damit um, wenn dich Kinder anstarren?
Daniela Rammel:
Bei Kindern ist es wirklich sehr schwierig. Manche sind halt wirklich gemein, sage ich jetzt echt. Die starren oder lachen. Mittlerweile können sie auch schon ihr Handy rausnehmen und du wirst zum Beispiel gefilmt oder fotografiert. Andere Kinder, die fragen dann einfach nach oder fragen ihre Eltern. Und da gibt es auch Unterschiede. Manche sagen einfach: „Schau nicht hin!“ Oder sie stellen sich auch vor das Kind, damit das Kind mich nicht so anstarren kann. Zum Beispiel im Bus oder auf der Straße. Ich freue mich dann immer, wenn die Eltern dann mit den Kindern sprechen und sagen: „Hey, es gibt auch unterschiedliche Personen, es gibt kleine, große.“ Oder: „Geh hin und frag!“ Und nicht dieses: „Schau nicht hin, schau weg!“ Um das quasi so ein bisschen zu vertuschen oder verstecken. Weil dann glaubt ja das Kind wieder: Aha, das ist irgendwas Komisches.
Lara Egger:
Also wenn ich jetzt mein jüngeres Ich vor mich nehme, dann würde es sich natürlich sehr ärgern darüber oder halt gar nicht verstehen, wieso sie dich auslachen oder wieso sie auf dich zeigen. Und dann sagt man ja immer halt zu seinen Eltern, also ich speziell zu meiner Mutter: „Wieso lachen sie mich aus?“ Weil ich habe das noch gar nicht so realisiert oder ganz verstanden, dass ich halt anders bin. Meine Mutter hat mir dann immer gesagt, ich darf mir nicht so viel dabei denken und sie einfach ignorieren. Und ja, jetzt versuche ich sie zu ignorieren. Also ich bin eine Person geworden, denke ich, die sehr gut ignorieren kann. Ich lebe jetzt einfach so mein Leben so und ich denke mir ist nicht viel dabei.
Daniela Rammel arbeitet seit 14 Jahren in der Öffentlichkeitsarbeit. War das schon ihr Plan in der Schule?
Daniela Rammel:
Nein. Ich wollt immer irgendwas mit Tieren machen oder Krankenschwester oder im Gesundheitsbereich. Aber da hat man halt immer gesagt: „Na ja, was willst du machen mit deiner Größe?“ Dann hab ich halt eher angestrebt so vielleicht im Office, halt einfach nur hinterm Computer sitzen. Da waren halt die Auswahlmöglichkeiten nicht so groß.
Lara Egger:
Also da ich jetzt in diese Radiowelt eingestiegen bin, das Glück habe, ein bisschen Erfahrungen zu sammeln, wär das schon mein Ziel oder mein Weg in die Zukunft, das weiterzuführen.
Zum Abschluss noch ein Gedankenexperiment:
Lara Egger:
Was würdest du deinem 17-jährigen Ich heute sagen?
Daniela Rammel:
Es wird alles cool. Ja, du wirst ein cooles Leben haben und mach dir keine Sorgen! Aber du bist ja jetzt schon 17 und fast erwachsen. Was würdest du eben deinem 12-jährigen oder 10-jährigen Ich mitgeben?
Lara Egger:
Dass alles gut wird, dass sie keine Angst haben soll, dass sie stark bleiben soll und dann an sich selber denken soll und er mit jedem Schritt stärker wird. Um dass im Endeffekt eh alles gut wird.