Gedanken für den Tag

"Die Schule und andere mittelwichtige Sachen" von Paulus Hochgatterer

Paulus Hochgatterer ist Schriftsteller und Kinderpsychiater

Von manchen Dingen glauben wir, dass sie zum naturgegebenen Fundament unseres Daseins gehören. Die Schule ist eines von ihnen, ganz besonders Anfang September. Anhand der Äußerungen von Kindern soll diese Annahme überprüft werden und eine Annäherung an die Frage erfolgen, was denn nun im Leben tatsächlich Bedeutung hat: Freunde, der Lehrsatz des Pythagoras, die große Pause oder Abercrombie & Fitch. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Lauras zweiter Schultag

Laura kommt zum Frühstück, genau wie gestern: Ungewaschen, ungekämmt, die Zähne nicht geputzt. Sie trägt den Pyjama mit den boxenden Murmeltieren drauf. Den hat sie am liebsten. Laura ist sechs Jahre und vier Monate alt, sechs Strichpunkt vier, wie ihre Mutter sagt. Die ist Psychologin und kennt sich aus.

Laura setzt sich an den Tisch, schiebt ihren Müsliteller weg, legt das Kinn auf die Unterarme und schaut ins Leere. Was ist? fragt ihre Mutter, isst du nichts? Laura schüttelt den Kopf.
Warum nicht?
Ich habe geträumt, sagt Laura. Was hast du geträumt? fragt ihre Mutter. Laura sagt nichts. Frühstück muss sein, sagt Lauras Vater, das bringt Energie für die Schule und ist gut für die Gesundheit. Lauras Vater ist ein GRIM, ein General Risk Manager. Er kennt sich aus mit Energie und Gesundheit.

Außerdem essen Murmeltiere kein Müsli, sagt Laura. Bist du ein Murmeltier? fragt Lauras Mutter. Sie kriegt schon wieder ein ungutes Gefühl, ganz ähnlich wie gestern. Magersucht könnte so beginnen. Höchstens Cola-Gummis, sagt Laura nach einer Weile, sie wolle, wenn schon, Cola-Gummis zum Frühstück. Die kommen überhaupt nicht in Frage, sagt Lauras Vater, Zucker fresse den Zahnschmelz weg, das Geleezeug verpicke den Magen und Cola sei überhaupt das Letzte. Wer das behaupte, fragt Laura. Die Ärzte, sagt ihr Vater. Laura leert Milch in den Müsli-Teller. Ist dein Kaffee gesund? fragt sie ihren Vater, Kaffee und sonst nichts; - sagen das die Ärzte auch? Ich bin schon erwachsen, sagt Lauras Vater. Das heißt, wenn man erwachsen ist, hat man jede Menge Gesundheit und braucht sie nicht mehr zu kriegen, sagt Laura, - ich will auch bald erwachsen werden. Ihr Vater verschluckt sich beinahe und ihre Mutter blickt gegen die Decke. Laura leert Milch in den Müsliteller, bis er überläuft. Uje! sagt sie und steht auf. Lauras Vater kriegt einen roten Kopf. Seine Frau legt ihm besänftigend die Hand auf den Oberarm.

Wenn ich den Murmeltier-Pyjama anhabe, träume ich nämlich von Murmeltieren, sagt Laura im Hinausgehen, das ist am allergesündesten.

Träume sind manchmal wichtiger als Frühstück. - Das ist Lauras Botschaft für den Dienstag.

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