Gedanken für den Tag
"Die Schule und andere mittelwichtige Sachen" von Paulus Hochgatterer
10. September 2010, 06:57
Paulus Hochgatterer ist Schriftsteller und Kinderpsychiater
Von manchen Dingen glauben wir, dass sie zum naturgegebenen Fundament unseres Daseins gehören. Die Schule ist eines von ihnen, ganz besonders Anfang September. Anhand der Äußerungen von Kindern soll diese Annahme überprüft werden und eine Annäherung an die Frage erfolgen, was denn nun im Leben tatsächlich Bedeutung hat: Freunde, der Lehrsatz des Pythagoras, die große Pause oder Abercrombie & Fitch. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.
Lauras fünfter Schultag
Jetzt ist deine erste Schulwoche fast vorüber, sagt Lauras Mutter. Und nichts hat sich geändert, sagt ihr Vater. Du kommst ungewaschen zum Frühstück, deine Haare sind nicht gekämmt, deine Zähne nicht geputzt und du steckst immer noch in deinem Murmeltier-Pyjama. Ganz anders als ausgemacht. Laura zuckt mit den Schultern und löffelt ihre Choco-Pops.
Was war denn das Schönste an dieser Woche? möchte Lauras Mutter wissen. Laura sagt nichts. Deine Freundinnen? fragt ihre Mutter, dass du so eine nette Lehrerin hast oder vielleicht dass Melanie neben dir sitzt? In der allerersten Schulwoche der allerersten Klasse ist alles schön, sagt Lauras Vater. Er ist ein GRIM, ein General Risk Manager, und weiß solche Sachen.
Oder vielleicht dein Platz gleich neben dem Fenster, fragt die Mutter, oder was ihr gelernt habt, das Zählen und Rechnen mit den Käferbohnen oder vom Obst oder von den Vögeln? Seit Jahrzehnten lernen alle das Gleiche, sagt Lauras Vater, ich kann mich genau erinnern, dass wir vor dreißig Jahren all diese Dinge auch gelernt haben. Vielleicht hat es sie auch schon gegeben, sagt seine Frau. Was? fragt er. Obst zum Beispiel, sagt sie, oder Zugvögel. Dann merkt sie, dass Laura den Löffel zur Seite gelegt hat und aufschnupft und dass Tränen in ihren Augen stehen. Sie kriegt ein wirklich ungutes Gefühl, aber welche Mutter würde das in so einer Situation nicht kriegen, egal, ob sie Psychologin ist oder nicht.
Was ist los? fragt sie, du weinst ja!
Lauras Vater schiebt die Kaffeetasse von sich. Ich hab es doch nicht so gemeint, sagt er. Laura zuckt mit den Schultern. Was ist, fragt die Mutter. Ich weiß nicht, sagt Laura.
Bist du traurig?
Laura nickt.
Und warum?
Laura schnieft. Keine Ahnung, sagt sie schließlich, weil ich nicht weiß, was das Schönste ist; oder weil wir von Obst gelernt haben oder weil die Zeit vergeht. Lauras Vater steht auf und macht sich noch einen Kaffee. Die Mutter hat begonnen, Lauras Choco-Pops zu essen.
Manchmal ist man traurig, einfach so oder weil die Zeit vergeht; auch wenn man erst sechs Strichpunkt vier Jahre alt ist. Das ist Lauras Botschaft für den Freitag.
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