Gedanken für den Tag

"Tage der Besinnung, des Innehaltens und der Versöhnung". Von Hannah Lessing

Hannah Lessing ist Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus und gläubige Jüdin.

Mit dem Neujahrsfest Rosch Haschana beginnt für Jüdinnen und Juden das neue Jahr und die "zehn Tage der Umkehr". Nach jüdischer Überlieferung wird - so die Symbolik - das Buch des Lebens vor dem Richterstuhl Gottes aufgeschlagen. In diesem Buch sind die Taten der Menschen festgehalten. Am ersten Tag, d. h. am Neujahrstag, wird das Urteil geschrieben, und am zehnten Tag wird es besiegelt, lehrt der jüdische Glaube. Dies ist der Versöhnungstag "Yom Kippur". Die zehn Tage sollen den Menschen die Möglichkeit geben zur Selbstbesinnung, zur Reue über unrechte Taten und zur Bitte um Versöhnung bei den Mitmenschen, denen man Böses angetan hat. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

In diesen Tagen begehen Jüdinnen und Juden die "Hohen Feiertage". Begonnen haben sie vergangene Woche mit dem zweitägigen jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana - das bedeutet "Kopf des Jahres". An ihrem Ende steht der höchste Feiertag des jüdischen Jahres - Jom Kippur, der Versöhnungstag.
 
Nach jüdischer Überlieferung werden an Neujahr drei Bücher geöffnet- ob man dieses Bild wörtlich verstehen will, bleibt dem Glauben jedes und jeder Einzelnen überlassen: Das Buch des Lebens, in das die Gerechten eingeschrieben werden. Das symbolische Buch des Todes für die so genannten Sünder. Das dritte Buch aber ist für die Mittelmäßigen, die nicht ohne Verdienste, aber auch nicht ohne Fehler sind. Sie haben während der zehn Tage vor Jom Kippur die Möglichkeit, ihrem Leben durch Besinnung und Innehalten eine Wende zum Guten zu geben.
 
Für mich sind diese Tage eine wertvolle Zeit der Kontemplation: Es tut gut, sich diese Auszeit zu nehmen, um Bilanz zu ziehen über das Gute und das weniger Gute des vergangenen Jahres, und um die richtige Gewichtung zu finden für das kommende.
 
Ich denke in diesen Tagen auch an die Menschen, denen seit 15 Jahren meine Arbeit im Nationalfonds gewidmet ist. Angesichts der Schicksale von Überlebenden des Holocaust drängt sich die Frage auf, warum in unserem Land so viele Menschen, denen grausamstes Unrecht zugefügt worden war, erst so spät Anerkennung und Hilfe erfahren haben.
 
Und dann stelle ich mir vor: Was, wenn etwas vom Geist der Besinnung, für den Rosch Haschana steht, vor 65 Jahren in der neu gegründeten Republik Österreich gewirkt hätte? Was, wenn es den Menschen damals möglich gewesen wäre, innezuhalten, über das Vergangene selbstkritisch nachzudenken, geschehenes Unrecht zu hinterfragen und für den neuen Anfang eine richtige Gewichtung der Prioritäten zu finden?
 
Es liegt eine eigene Schönheit in dem Gedanken, etwas Neues beginnen zu lassen in Ruhe, mit Besinnung und Selbstreflexion- das gilt für die Gemeinschaft ebenso wie für den Einzelnen, zu jeder Zeit.

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