Gedanken für den Tag

"Tage der Besinnung, des Innehaltens und der Versöhnung". Von Hannah Lessing

Hannah Lessing ist Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus und gläubige Jüdin.

Mit dem Neujahrsfest Rosch Haschana beginnt für Jüdinnen und Juden das neue Jahr und die "zehn Tage der Umkehr". Nach jüdischer Überlieferung wird - so die Symbolik - das Buch des Lebens vor dem Richterstuhl Gottes aufgeschlagen. In diesem Buch sind die Taten der Menschen festgehalten. Am ersten Tag, d. h. am Neujahrstag, wird das Urteil geschrieben, und am zehnten Tag wird es besiegelt, lehrt der jüdische Glaube. Dies ist der Versöhnungstag "Yom Kippur". Die zehn Tage sollen den Menschen die Möglichkeit geben zur Selbstbesinnung, zur Reue über unrechte Taten und zur Bitte um Versöhnung bei den Mitmenschen, denen man Böses angetan hat. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Der Versöhnungstag Jom Kippur, der heute mit Sonnenuntergang beginnt, ist nach jüdischer Vorstellung auch der Tag der Sündenvergebung. Nach biblischer Überlieferung wurden an diesem Tag zwei Ziegenböcke ausgewählt. Das Los entschied darüber, welches der beiden Tiere G-tt geopfert und welches zur Sühne dienen sollte. Auf dieses wurden vom Hohepriester symbolisch die Sünden des Volkes Israel übertragen, um ihn anschließend in die Wüste zu schicken. Mit seiner Vertreibung wurden die Sünden gleichsam mit verjagt: "Der Bock soll alle ihre Sünden mit sich in die Einöde tragen", heißt es in der Tora.
 
Das Bild des Sündenbocks wurde in der Geschichte der Menschheit immer wieder dazu missbraucht, andere Menschen als Projektionsfläche für alles Negative heranzuziehen, in der irrigen Vorstellung, man könne sich mit deren Ächtung und Verfolgung auf einfache Art von allem Übel befreien.
 
Objekt dieser Projektion sind meist gesellschaftliche Randgruppen, die macht- und wehrlos sind, und deren Angehörige anders sind als die breite Mehrheit. In der Zeit des Nationalsozialismus traf dies neben vielen anderen vor allem Jüdinnen und Juden, aber bis heute sind Menschen nicht immun gegen die verführerische Vorstellung, sich ihrer eigenen Schwächen entledigen zu können, indem sie diese von sich weg- und anderen zuschieben.
 
Ein trauriges und aktuelles Beispiel ist der Umgang mit den europäischen Roma, wie die Massenabschiebungen aus Frankreich und viele andere Beispiele aus jüngster Vergangenheit zeigen. Auch hier in Österreich kommt es immer wieder zu zumindest verbalen Angriffen - nicht nur von so genannten einfachen Bürgerinnen und Bürgern, sondern auch von Vertreterinnen und Vertretern aus der Politik, die es eigentlich besser wissen müssten.
 
Es ist an der Zeit, das biblische Bild wieder in seinem ursprünglichen, das heißt im übertragenen Sinn zu verstehen - nämlich als Sinnbild dafür, das Negative nicht im anderen zu suchen, sondern in sich selbst wahrzunehmen und aus dem eigenen Herzen zu verbannen.

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