Gedanken für den Tag

"Wer nicht liest, kennt die Welt nicht" von Cornelius Hell

Cornelius Hell ist Literaturkritiker und Übersetzer.

Lesen eröffnet fiktive Bilder, von denen aus die sogenannte Realität in einem anderen Licht erscheint und genauer zu sehen ist. Lesen ist ein Ort, wo jede und jeder zu sich selbst kommt und spielerisch einen neuen Blick auf die Welt ausprobieren kann. Lesen, die "Lust am Text" (Roland Barthes), ist ein Lebensmotor, der auch dann seine Energien entfalten kann, wenn das Leben außerhalb der Bücher trist und brüchig ist. Lesen kann auch ein religiöser Akt sein - nach jüdisch-christlicher Überzeugung offenbart sich Gott in Literatur - in der Bibel. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Wenn ich durch die litauische Hauptstadt Vilnius gehe, in die es mich immer wieder zieht, bleibe ich oft beim Denkmal des berühmten Gaon, des jüdischen Weisen, stehen; Elijahu ben Schlomo Salman Kremer hieß er und galt als der größte Bibel- und Talmudkenner des 18. Jahrhunderts. Wenn ich die verwinkelte Altstadt von Vilnius durchstreife, stelle ich mir hinter den Fenstern viele bärtige jüdische Männer wie ihn vor: Den ganzen Tag lesend, ständig mit der Bibel beschäftigt - dieses Buch ist ihnen wichtiger als das tägliche Leben.

Das Judentum hat viele solche Männer hervorgebracht. Einer von ihnen wurde heute vor 100 Jahren in Lemberg geboren: Friedrich Weinreb. Beruflich beschäftigte er sich mit Nationalökonomie und Statistik, doch seine Liebe war die Bibellektüre, und die letzten beiden Jahrzehnte seines Lebens hat er ganz der Bibel-Interpretation gewidmet und dabei auch viele Brücken zum Christentum geschlagen.

Friedrich Weinreb war einer der letzten Juden in Europa, die aus der Bibel, dem Talmud und den chassidischen Geschichten gelebt haben - jenen vielfarbigen mystischen Geschichten, die ein bleibendes Erbe des osteuropäischen Judentums sind. Aber eben nur noch ein Erbe, seit die Nationalsozialisten die Juden ermordet oder in die Emigration getrieben haben.

In Vilnius haben sie, kaum hatten sie die Stadt okkupiert, sofort damit begonnen, jüdische Literatur zu vernichten: Die Bleimatrizen des Talmud aus der berühmten Druckerei Romm, deren Satz-Herstellung etwa 20 Jahre gedauert hatte, wurden zum Metallwert verkauft, aus fünf Manuskriptschränken wurden seltene Ausgaben weggeworfen, um darin Schweine nach Deutschland zu transportieren, und 500 Thorarollen wurden einer Lederfabrik übergeben, um sie zu Stiefelfutter zu verarbeiten. Abraham Sutzkever, der Anfang dieses Jahres verstorbene große jiddische Dichter, hat das in seinen Aufzeichnungen festgehalten.

Judentum, Christentum und Islam werden als Buchreligionen bezeichnet, weil eine Heilige Schrift das Grunddokument ihrer Religion ist. Das Judentum hat die leuchtendsten Beispiele für die Heiligkeit des Lesens hervorgebracht - gegen den ökonomischen Blick, der die Thorarollen nach dem Wert des Leders taxiert und Druckplatten nach ihrem Metallwert bemisst, sind sie von bleibender Aktualität.

Service

Buch, Abraham Sutzkever, Wilner Getto 1941 - 1944, Witt. Ammann Verlag

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