Gedanken für den Tag

"Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah - zum 90. Geburtstag von Paul Celan" von Lydia Koelle

Lydia Koelle ist Professorin für Systematische Theologie am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaft der Universität Paderborn.

Paul Celan hat seine Gedichte einmal als Geschenke an die Aufmerksamen bezeichnet. Sie sind ein verzweifeltes Gespräch, ausgerichtet auf einen ebenso realen wie utopischen Gesprächspartner. 1920 als Paul Antschel und Sohn jüdischer Eltern, die in der Shoah ermordet wurden, in der Bukowina geboren, gilt Paul Celan als einer der bedeutendsten Lyriker der Nachkriegszeit.

Die theologische Begegnung mit Celan führt fast zwangsläufig zur Theodizeefrage und zum Problem des Gottesverständnisses nach Auschwitz, denn die Vernichtung der Juden durch die Nazis ist das historische Datum, von dem Celans Dichtung sich herschreibt. Die deutsche Theologin Lydia Koelle will aus dem Werk Celans nicht einfach eine theologische Theorie herausdestillieren, aber die Traditionen benennen, in denen Celan in der Auseinandersetzung mit den religiösen Überlieferungen von Judentum und Christentum seinen geistigen Standpunkt bestimmt. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

In seinem Todesjahr 1970 erschien der letzte von Paul Celan noch selbst für den Druck vorbereitete Gedichtband "Lichtzwang" mit dem Gedicht "Du sei wie du" (GW 2/327). Celan wurde nach eigenen Worten zu diesem Gedicht durch eine mittelhochdeutsche Predigt des Mystikers und Theologen Meister Eckhart inspiriert, die nach dem lateinischen Text der Vulgata-Bibel aus Jesaja 60,1 Surge illuminare, iherusalem heißt: "Steh auf, werde Licht, Jerusalem!"
 
Du sei wie du, immer.
Stant vp Jherosalem inde
erheyff dich
Auch wer das Band zerschnitt zu dir hin,
inde wirt
erluchtet
knüpfte es neu, in der Gehugnis,
Schlammbrocken schluckt ich, im Turm,
Sprache, Finster-Lisene,
kumi
ori
 
Der Text "Du sei wie du" entstand am 3. Dezember des Jahres 1967 nach christlichem Festkalender der Erste Advent. In der Adventsliturgie werden die gebräuchlichen Lesungstexte aus dem Buch Jesaja auf Christus hin umgedeutet: Alle Verheißungen, die ursprünglich dem Volk Israel galten, das durch die mit dem Namen "Jerusalem" Angeredete repräsentiert wurde, richten sich nun an das "wahre Israel" und das "neue Jerusalem": Die Kirche.

Der zunächst rätselhaft erscheinende Text "Du sei wie du" eröffnet mit der Kenntnisnahme seines Zitatbestandes, der mehr als die Hälfte der Zeilen umfasst, einen bereits überlieferten Verstehenskontext, in dem Jahrtausende konvergieren zu neuer Gegenwart. Im Gedicht "Du sei wie du" setzt Celan die ursprüngliche Erwählung Israels gegen eine, wie zu Zeiten Eckharts übliche, christlich-spiritualisierende Lesart der Jerusalems als "Kirche" oder "Seele".

Die mittelhochdeutschen Verse "Stant vp Jherosalem inde erheyff dich inde wirt erluchtet" - "Steh auf, Jerusalem, und du wirst erleuchtet" - aus der Eckhart-Predigt durchziehen wie ein Spruchband den Text; gleich einem Orientierungsfaden, an dem Celan zur eigenen, jüdischen Tradition zurückfindet, und damit den christlichen Mystiker hinter sich lässt auf dem Weg zurück zum Ursprung der von Eckhart benutzten biblischen Quelle und so zu den hebräischen Schlussworten von "Du sei wie du": "kumi ori" - "Steh auf, werde Licht!"

Service

Buch, J. Quint (Hg.), Meister Eckhart. Die Deutschen Werke, Stuttgart 1958

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