Gedanken für den Tag

"Die Abenteuer des Lobens" - Über Kurt Marti und Marie Luise Kaschnitz. Von Cornelius Hell

Cornelius Hell ist Literaturkritiker und Übersetzer.

Das Leben loben bis in seine Abgründe hinein - ohne blind zu sein für Unrecht und Leid: Der 90-jährige Schweizer Schriftsteller und Pfarrer Kurt Marti und die vor 110 Jahren geborene Marie Luise Kaschnitz haben dafür eine poetische Sprache gefunden. Abseits harmloser Konvention haben sie damit ein Reservoir der Religionen neu zugänglich gemacht: Den Hymnus auf die Schöpfung, das dankbare Lob erfahrener Gnade. Oft ist es ein dissonantes, ein "barfüßig lob" (Kurt Marti). Und eine Anstiftung, nach eigenen Worten für außergewöhnliche Erfahrungen zu suchen. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Als die deutsche Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz 1974 in Rom gestorben war, fand sich in ihrem Nachlass folgende Aufzeichnung, in der sie über einen aufgefundenen Notizzettel reflektierte. Sie schreibt:

"Ganz unten auf dem Zettel stand die Überschrift 'Das schöne Gedicht', die übrigens in meinen Notizen immer wieder auftaucht und in der sich mein Wunsch äußert, einmal noch vor dem Stillschweigen ein schönes Gedicht zu schreiben, was gewiß nicht heißen sollte, ein gefälliges, gar gefühlvolles, glattes Gedicht. Es soll wohl nur etwas noch zu Worte kommen, was ich aus lauter Trauer über die Unvollkommenheit der Welt (und meine eigene Unvollkommenheit) nie zum Ausdruck gebracht habe. Ein Lebenslob und Gotteslob, und gerade das wird immer wieder verschoben, wahrscheinlich, bis es zu spät dazu ist."

Dass Marie Luise Kaschnitz dieses Lebenslob und Gotteslob immer wieder aufgeschoben hat und nicht schreiben konnte, liegt wohl weniger daran, dass es in ihrem privaten Leben keinen Grund für ein solches Lob gegeben hätte, als an der Welt, die sie wahrnahm. "Denen, die Dich zu loben versuchen, / Spülst Du vor die Füße den aufgetriebenen Leichnam", schrieb sie schon in den 1950er Jahren in ihrem "Tutzinger Gedichtkreis". Die Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges, später auch die Nachrichten über Hunger, Kriege und Massaker ließen das Lebenslob und Gotteslob nicht mehr zu, hätten es geradezu als frivol erscheinen lassen.

Ähnliche Erfahrungen reflektiert der Schweizer Schriftsteller Kurt Marti in seinem Gedichtband "Mein barfüßig Lob", der 1987, ein Jahr nach der Katastrophe im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl erschien. "Sieht man Gott als allmächtigen Weltenlenker", sagt Kurt Marti im Gespräch, "so kann man ihn tatsächlich nicht mehr loben. Aber vielleicht müssen wir uns von dieser Vorstellung verabschieden." Kurt Marti versucht ein vorsichtiges Lob des Lebens, das Natur und Geschichte nicht vorschnell als gut erklärt. Und schließt ein Gedicht mit den Worten:

nichtwissen
neugier:
kein reineres lob

Service

Buch, Marie Luise Kaschnitz, Gedichte, ausgewählt von Peter Huchel, Suhrkamp BD. 436
Buch, Marie Luise Kaschnitz, Gedichte, ausgewählt von Elisabeth Borchers, Insel Taschenbuch Nr. 2803
Buch, Christian Büttrich, Norbert Miller (Hg.), Gesammelte Werke, Insel Verlag, antiquarisch
Buch, Kurt Marti, Gott im Diesseits. Versuche zu verstehen, Radius Verlag
Buch, Kurt Marti, Abendland. Gedichte, Luchterhand Verlag, antiquarisch
Buch, Kurt Marti, Mein barfüßig Lob. Gedichte, Luchterhand Verlag, antiquarisch

Wenn Sie diese Sendereihe kostenfrei als Podcast abonnieren möchten, kopieren Sie diesen Link (XML) in Ihren Podcatcher. Für iTunes verwenden Sie bitte diesen Link (iTunes).

Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: GFT 110201 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 02:40 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

weiteren Inhalt einblenden