Gedanken für den Tag

"Die Abenteuer des Lobens" - Über Kurt Marti und Marie Luise Kaschnitz. Von Cornelius Hell

Cornelius Hell ist Literaturkritiker und Übersetzer.

Das Leben loben bis in seine Abgründe hinein - ohne blind zu sein für Unrecht und Leid: Der 90-jährige Schweizer Schriftsteller und Pfarrer Kurt Marti und die vor 110 Jahren geborene Marie Luise Kaschnitz haben dafür eine poetische Sprache gefunden. Abseits harmloser Konvention haben sie damit ein Reservoir der Religionen neu zugänglich gemacht: Den Hymnus auf die Schöpfung, das dankbare Lob erfahrener Gnade. Oft ist es ein dissonantes, ein "barfüßig lob" (Kurt Marti). Und eine Anstiftung, nach eigenen Worten für außergewöhnliche Erfahrungen zu suchen. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

"Wer alles für selbstverständlich hält oder alles im Griff zu haben glaubt, ruft nicht aus, ruft nicht an, verfällt in kein Dada-Gestammel, geht ohne Staunen, ohne Verzweiflung seines Wegs und so an Gott, dem großen Geheimnis, vorbei."

Diese Sätze stehen in dem Essayband "Gott im Diesseits" des Schweizer Schriftstellers und Theologen Kurt Marti. Unter seinen Gedichten finden sich immer wieder Anrufungen, auch Lobpreisungen der Welt und des Lebens. Das Gedicht "Preisungen" im Band "Abendland" erinnert an den 150., den letzten der biblischen Psalmen, den großen Lobgesang auf Schöpfer und Schöpfung. Es beginnt mit den Verszeilen:
preise den rhythmus gebogener räume
die gestirne entwandernd ins all
preise die dunkelstürze von meeren
der mondgebirge fata morgana
preise den sonnensabbat
das kosmische fest
 
Kurt Martis Lobpreis beginnt mit dem Staunen über das Weltall und greift schlaglichtartig Momente geglückten Lebens heraus, etwa:
preise der greisinnen herzlichen mut
die kühnen revolten göttlicher hoffnung
preise den gott im bauche des mädchens
den heiligen embryo unserer zukunft
 
Die letzten Zeilen des Gedichtes fokussieren Jesus:
preise die nacht da der bruder aus nazareth tanzt
inmitten einer endlich herrenlosen gesellschaft

Kurt Marti muss sich keine heile Welt zurecht lügen, um seinen Lobpreis anzustimmen, ganz im Gegenteil: Sein Lob findet sich nicht ab mit der Welt, wie sie ist; mit dem Selbstverständlichen.

Ohne solche Ekstasen des Lobes verflacht das Leben genauso wie ohne laute Klageschreie. Das ruhige Leben in mittleren Temperaturen geht nicht nur, wie Kurt Marti schreibt, an Gott, dem großen Geheimnis, vorbei; es ist auch unfähig zum Dada-Gestammel, zu jenen experimentellen Wortfetzen, mit dem die Poeten des Dadaismus ab 1916 gegen die etablierte Kunst antraten. Ohne die Ekstasen des Lobes verstummt auch die Kunst.

Service

Buch, Marie Luise Kaschnitz, Gedichte, ausgewählt von Peter Huchel, Suhrkamp BD. 436
Buch, Marie Luise Kaschnitz, Gedichte, ausgewählt von Elisabeth Borchers, Insel Taschenbuch Nr. 2803
Buch, Christian Büttrich, Norbert Miller (Hg.), Gesammelte Werke, Insel Verlag, antiquarisch
Buch, Kurt Marti, Gott im Diesseits. Versuche zu verstehen, Radius Verlag
Buch, Kurt Marti, Abendland. Gedichte, Luchterhand Verlag, antiquarisch
Buch, Kurt Marti, Mein barfüßig Lob. Gedichte, Luchterhand Verlag, antiquarisch

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Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: GFT 110202 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 02:41 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

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