Gedanken für den Tag

"Die Abenteuer des Lobens" - Über Kurt Marti und Marie Luise Kaschnitz. Von Cornelius Hell

Cornelius Hell ist Literaturkritiker und Übersetzer.

Das Leben loben bis in seine Abgründe hinein - ohne blind zu sein für Unrecht und Leid: Der 90-jährige Schweizer Schriftsteller und Pfarrer Kurt Marti und die vor 110 Jahren geborene Marie Luise Kaschnitz haben dafür eine poetische Sprache gefunden. Abseits harmloser Konvention haben sie damit ein Reservoir der Religionen neu zugänglich gemacht: Den Hymnus auf die Schöpfung, das dankbare Lob erfahrener Gnade. Oft ist es ein dissonantes, ein "barfüßig lob" (Kurt Marti). Und eine Anstiftung, nach eigenen Worten für außergewöhnliche Erfahrungen zu suchen. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Den Teufel nicht an die Wand
Weil ich nicht an ihn glaube
Gott nicht gelobt
Aber wer bin ich dass
 
Mit diesem rätselhaften Satzfragment endet das Gedicht "Nicht gesagt" von Marie Luise Kaschnitz. Der defekte Satz bleibt ein Rätsel, wenn man ihn nicht als abgebrochenes Klopstock-Zitat erkennt und seine Fortsetzung weiß: "Wer bin ich / Daß ich mich auch in die Jubel dränge". Dieser Vers steht in einem der reflektierenden Begleitgedichte zu Klopstocks "Messias", seinem Lebensprojekt.  
 
DER Seraph stammelt, und die Unendlichkeit
Bebt durch den Umkreis ihrer Gefilde nach
Dein hohes Lob, oh Sohn! wer bin ich,
Daß ich mich auch in die Jubel dränge?
 
Kaschnitzs lapidar konstatierte Fehlanzeige "Gott nicht gelobt" erhält einen programmatischen Charakter, der Klopstocks Ode aus dem Jahr 1771 diametral entgegengesetzt ist. Gott nicht gelobt - hier spricht eine Autorin, die schon 1945 geschrieben hat, sie sei von dem Stolz der Glaubenslosen wie von der Sicherheit der Gläubigen gleichermaßen entfernt. "Gott nicht gelobt" ist nicht nur eine Feststellung über das eigene dichterische Werk, sondern geradezu Programm. Und ein sehr dringliches Programm, denn gleichzeitig mit Marie Luise Kaschnitz waren in Deutschland und Österreich Dichterinnen und Dichter am Werk, die das Lob Gottes so problemlos auf ihre Tagesordnung setzen konnten, als wären nicht gerade sieben Millionen Juden ermordet und ein Weltkrieg vom Zaun gebrochen worden. Es zeugt von der politischen wie poetischen Sensibilität von Marie Luise Kaschnitz, dass sie nicht einfach auf Klopstock, den Vertreter einer christlich geprägten Hymnik par excellence, zurückgreifen konnte, sondern sich das "hohe Lob" versagte.

Aber es geht der Poesie wie der Religion - und vor allem dem Leben - auch viel verloren, wenn jedes Lob des Lebens und der Welt verdächtig ist. Kurt Marti hat mit seinem "barfüßig Lob", seinem "stammellob" etwas von den Möglichkeiten dieses Lobes zurückerobert. In seinem "Lob der Gegenwart" stehen die Verse:
 
und dennoch:
freude den sinnen!
lust den geschöpfen!
friede den seelen!

Service

Buch, Marie Luise Kaschnitz, Gedichte, ausgewählt von Peter Huchel, Suhrkamp BD. 436
Buch, Marie Luise Kaschnitz, Gedichte, ausgewählt von Elisabeth Borchers, Insel Taschenbuch Nr. 2803
Buch, Christian Büttrich, Norbert Miller (Hg.), Gesammelte Werke, Insel Verlag, antiquarisch
Buch, Kurt Marti, Gott im Diesseits. Versuche zu verstehen, Radius Verlag
Buch, Kurt Marti, Abendland. Gedichte, Luchterhand Verlag, antiquarisch
Buch, Kurt Marti, Mein barfüßig Lob. Gedichte, Luchterhand Verlag, antiquarisch

Wenn Sie diese Sendereihe kostenfrei als Podcast abonnieren möchten, kopieren Sie diesen Link (XML) in Ihren Podcatcher. Für iTunes verwenden Sie bitte diesen Link (iTunes).

Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: GFT 110205 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 02:42 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

weiteren Inhalt einblenden