Radiokolleg - Jedes Kapitel eine Weltanklage

Thomas Bernhard zum 80. Geburtstag (1). Gestaltung: Thomas Schaller und Robert Weichinger

Vor 30 Jahren begann meine persönliche Geschichte mit Thomas Bernhard. Als Student war ich Käufer von Suhrkamp-Taschenbuchausgaben seiner Bücher. Den kargen biografischen Angaben über den Autor entnahm ich, dass dieser rätselhafte Schriftsteller einen Wohnsitz in Ohlsdorf hatte. Ohlsdorf, wo mag das liegen? Atlanten haben mich schon immer fasziniert, deshalb begab ich mich auch gerne auf die Suche. Die Lösung: In der Nähe von Gmunden und dem Traunsee. Und dann, gerade vorher hatte ich mir "Wittgensteins Neffe" besorgt, sah ich ihn. Leibhaftig. In der Schottenpassage saß Thomas Bernhard alleine auf einer Bank. Das Besondere war, dass eine zweite Bank, die in unmittelbarer Nähe von Bernhards Bank stand, voll besetzt mit Wartenden war. Mir wurde schnell klar, warum der Dichter trotz vieler und vermutlich auch müder Menschen in seinem Späher-Refugium allein gelassen wurde: Seine ganze Körpersprache duldete keine Sitznachbarn. Zudem hatte Bernhard einen Schirm, den er wie einen Degen benützte. Unaufhörlich zeichnete er mit diesem "Schirmdegen" imaginäre Halbkreise auf den Boden. Auch das waren sichtbare Zeichen, dass hier einer seinen Bannkreis nicht durchbrochen haben wollte. Der Zweck von Bernhards Übung war wohl die Menschenbeobachtung.

Bald darauf führte mich mein erstes literarisches Feature nach Ohlsdorf, wohin sonst? Ich wusste, dass Bernhard von Reportern keine hohe Meinung hatte und dass man schon sehr viel Glück brauchte, um ihn vors Mikrofon zu bekommen. Mit bangem Herzen klopfte ich an das Tor seines Vierkanters in Obernathal, Gemeinde Ohlsdorf. Natürlich wurde mir nicht aufgemacht. Das war zu erwarten. Was sollte ich machen? Ohne Interview keine Sendung. So lernte ich, aus der Not eine Tugend zu machen. Ich begann mich in Ohlsdorf umzuhören, befragte die Landbevölkerung über ihren Nachbarn Thomas Bernhard. Die Sendung "Die Hauptdarsteller der Nebenrollen" brachte mir einen Radiopreis ein, und das verdankte ich der Prominenz des Verweigerungskünstlers Thomas Bernhard.

Im Februar wäre dieser Dichter aus Ohlsdorf 80 Jahre alt geworden. Das bietet eine Gelegenheit, den aktuellen Stand der Bernhard-Forschung zu untersuchen und den Fragen nachzugehen, welche Schätze der Nachlass birgt. Was weiß man heute über die Intentionen des Autors? Welchen Prozess durchläuft die Wirkungsgeschichte dieses Werks? Wieso wurde aus so manchem Gegner des Schriftstellers ein heftiger Bernhard-Bewunderer? Und warum ist der vor 21 Jahren Verstorbene noch immer der "Sonnenkönig" der deutschsprachigen Literatur - diese Frage soll vor allem mit jüngeren Autoren erörtert werden.

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