Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Ich bin ein Mystiker und ich glaube an nichts" - zum 100. Geburtstag des rumänisch-französischen Denkers E. M. Cioran

Cornelius Hell ist Literaturkritiker und Übersetzer.

E. M. Cioran (geboren 1911 in Rasinari bei Hermannstadt, gestorben 1995 in Paris) war ein kompromissloser Selbst-Denker und stellt in seinen Aphorismen und Kurzessays weltanschauliche und religiöse Gewissheiten radikal in Frage. Gleichzeitig hat sich dieser Skeptiker ein Leben lang mit ekstatischen Mystikern, Heiligen und außenseiterischen religiösen Traditionen beschäftigt und formuliert: "Es leuchtet ein, dass Gott eine Lösung war und dass man nie wieder eine ebenso befriedigende finden wird."

Große Formulierungskraft und die Lust an paradoxer Zuspitzung machen Cioran zu einem unvergesslichen Lese-Abenteuer - gerade auch in Sachen Religion. In den persönlichen Begegnungen war der bekennende Menschenfeind und radikale Weltverneiner ein offener Gesprächspartner mit großem Charme.

"Der Augenblick, wo wir glauben, alles verstanden zu haben, gibt uns das Aussehen eines Mörders." Dieser Satz aus dem Aphorismenband "Syllogismen der Bitterkeit" des französischen Denkers E. M. Cioran ist mir schon als Student in die Knochen gefahren, und er blinkt mir noch immer als Warnlicht. Ein anderer Satz Ciorans, der mir gleich bei der ersten Lektüre eingeleuchtet hat, lautet: "Man macht den Skeptiker fertig, man spricht von der 'Automatik des Zweifels', während man einem Gläubigen nie sagt, daß er, in die Automatik des Glaubens gefallen ist." Hier ist auf den Punkt gebracht, was mich schon vor Jahrzehnten bei vielen meiner katholischen Artgenossen abschreckte: Die Automatik des Glaubens. Es gibt eine Art von kirchlicher Redeweise, es gibt Gesten und Gesichter, glaubensfest und verkündigungserprobt, die vor dem Gift dieser Formel nicht bestehen können: "In die Automatik des Glaubens gefallen".

Doch Ciorans Ironie gegen die "Automatik des Glaubens" richtet sich nicht nur gegen religiösen Glauben. Die Gedankenpfeile seiner Skepsis zielen auf jede weltanschauliche Überzeugung, sie nehmen alle Gedankensysteme aufs Korn, die sich sicher sind bei der Deutung der Welt oder ein Ziel der Geschichte angeben. Lange dachte ich, mit dieser Skepsis, die auf nichts hinaus will, der es auch nicht darum geht, etwas zu verneinen, sondern Gewissheiten durch Fragen zerbröseln zu lassen - mit dieser Skepsis wäre man vor jedem Fanatismus und vor jeder einseitigen Parteinahme gefeit.

Inzwischen ist freilich längst bekannt, dass Cioran nicht nur in seiner Jugend Mitglied der "Eisernern Garde", der rumänischen Variante des Faschismus, war, sondern aus Deutschland Artikel in glühender Begeisterung für den Nationalsozialismus verfasst hat. Seit wenigen Wochen kann man sie auf Deutsch nachlesen. Da ich ihre Aussagen im Wesentlichen kannte, haben sie mich nicht mehr so schockiert. Aber ein Satz geht mir nicht aus dem Kopf. "So kannst du an allem zweifeln und dennoch für die Diktatur sein." Jetzt weiß ich: Auch die radikalste Skepsis ist keine Garantie für ein freies und humanes Denken.

Service

Bücher von E. M. Cioran
E. M. Cioran, Werke. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Aus dem Französischen von François Bondy, Paul Celan, Verena von der Heyden-Rynsch, Kurt Leonhard und Bernd Mattheus. Suhrkamp Quarto 2085. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008

Einzelne Werke sind in den Verlagen Suhrkamp und Klett-Cotta erschienen; die "Syllogismen der Bitterkeit" sind derzeit nicht als Einzelausgabe lieferbar.

Nicht in der Werkausgabe enthalten sind folgende Schriften:

E. M. Cioran: Cahiers 1957-1972. Ausgewählt und aus dem Französischen von Verena von der Heyden-Rynsch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001

E. M. Cioran: Aufzeichnungen aus Talamanca. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort vom Verena von der Heyden-Rynsch. Weissbooks, Frankfurt am Main 2008

E. M. Cioran: Über Frankreich. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010

E. M. Cioran: Über Deutschland. Aufsätze aus den Jahren 1931-1937. Herausgegeben, aus dem Rumänischen übersetzt und mit einer Nachbemerkung von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011


Bücher über E. M. Cioran
Cornelius Hell: Skepsis, Mystik und Dualismus. Eine Einführung in das Werk E. M. Ciorans.
Bouvier Verlag, Bonn 1985 (=Studien zur französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Band 11) Nicht mehr lieferbar

Patrice Bollon: Cioran, der Ketzer. Aus dem Französischen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006

Silvana Lindner: Mystik des Nihilismus? Auseinandersetzung mit Emil Ciorans Werk aus systematisch-theologischer Perspektive orthodoxer Prägung. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2006

Franz Winter: Emil Cioran und die Religionen. Eine interkulturelle Perspektive. Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2007

Bernd Mattheus: Cioran. Portrait eines radikalen Skeptikers. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2007

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Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: GFT 110405 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 02:41 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

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