Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Ich bin ein Mystiker und ich glaube an nichts" - zum 100. Geburtstag des rumänisch-französischen Denkers E. M. Cioran

Cornelius Hell ist Literaturkritiker und Übersetzer.

E. M. Cioran (geboren 1911 in Rasinari bei Hermannstadt, gestorben 1995 in Paris) war ein kompromissloser Selbst-Denker und stellt in seinen Aphorismen und Kurzessays weltanschauliche und religiöse Gewissheiten radikal in Frage. Gleichzeitig hat sich dieser Skeptiker ein Leben lang mit ekstatischen Mystikern, Heiligen und außenseiterischen religiösen Traditionen beschäftigt und formuliert: "Es leuchtet ein, dass Gott eine Lösung war und dass man nie wieder eine ebenso befriedigende finden wird."

Große Formulierungskraft und die Lust an paradoxer Zuspitzung machen Cioran zu einem unvergesslichen Lese-Abenteuer - gerade auch in Sachen Religion. In den persönlichen Begegnungen war der bekennende Menschenfeind und radikale Weltverneiner ein offener Gesprächspartner mit großem Charme.

"Die Schöpfung ist der erste Sabotageakt." Gut machte sich dieser Satz auf der Fassade des Salzburger Doms zu lesen. Ein Satz Ciorans. Während ich Anfang der 1980er Jahre die Aphorismen und Essays dieses irritierenden Denkers für mich entdeckte, wollte ich unbedingt wissen, wer dieses Graffiti auf den Dom gesprayt haben könnte. Cioran-Leser waren damals so etwas wie eine verschworene Gemeinschaft, und so habe ich auch irgendwann die deutsche Künstlerin kennengelernt, die für Cioran zur Spraydose gegriffen hatte.

Die Ablehnung der Schöpfung ist einer seiner Zentralgedanken - "Die verfehlte Schöpfung" heißt eines seiner Bücher in deutscher Übersetzung. Dass diese Welt, der "Skandal der Schöpfung", etwas mit einem guten Gott zu tun haben soll, ist für ihn unbegreiflich. Sehr früh hat er seinen Schopenhauer gelesen und den Blick auf das Leiden gelernt. Mit außenseiterischen Traditionen des Christentums versteht Cioran die Welt als Produkt eines korrumpierten Demiurgen, eines Weltbaumeisters. Er legt den Finger damit auf einen wunden Punkt: Das Leid und Böse in der Welt ist mit einem guten Schöpfergott schwer in Einklang zu bringen. Und wenn man sich den als allmächtig vorstellt, ist auch der Teufel keine Lösung.

Eine Lösung hat natürlich auch Cioran nicht, nur einen radikalen Gedanken: Es wäre am besten, gar nicht geboren zu sein - ein Gedanke, der ihn mit dem Buddhismus verbindet, der aber auch schon in der Antike zu finden ist, etwa bei Sophokles. Einmal hat dieser Gedanke auch mein Lebensgefühl ausgedrückt, doch in den letzten Jahren und Jahrzehnten habe ich Erfahrungen gemacht, die mich das nicht mehr glauben lassen. Doch dass Gedanken, die der Welt und dem Leben auf den Grund gehen, nicht aus Erfolg, Zufriedenheit und "happyness" erwachsen, habe ich von Cioran überzeugender gelernt als aus manchen Variationen christlicher Lebensstile - denn dort finden sich von barocker Prunkentfaltung bis zur beruhigten Bürgerlichkeit des Verbands- und Milieukatholizismus allzu viele Beispiele des Kompromisses mit Erfolg, Karriere und Saturiertheit.

Service

Bücher von E. M. Cioran
E. M. Cioran, Werke. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Aus dem Französischen von François Bondy, Paul Celan, Verena von der Heyden-Rynsch, Kurt Leonhard und Bernd Mattheus. Suhrkamp Quarto 2085. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008

Einzelne Werke sind in den Verlagen Suhrkamp und Klett-Cotta erschienen; die "Syllogismen der Bitterkeit" sind derzeit nicht als Einzelausgabe lieferbar.

Nicht in der Werkausgabe enthalten sind folgende Schriften:

E. M. Cioran: Cahiers 1957-1972. Ausgewählt und aus dem Französischen von Verena von der Heyden-Rynsch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001

E. M. Cioran: Aufzeichnungen aus Talamanca. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort vom Verena von der Heyden-Rynsch. Weissbooks, Frankfurt am Main 2008

E. M. Cioran: Über Frankreich. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010

E. M. Cioran: Über Deutschland. Aufsätze aus den Jahren 1931-1937. Herausgegeben, aus dem Rumänischen übersetzt und mit einer Nachbemerkung von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011


Bücher über E. M. Cioran
Cornelius Hell: Skepsis, Mystik und Dualismus. Eine Einführung in das Werk E. M. Ciorans.
Bouvier Verlag, Bonn 1985 (=Studien zur französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Band 11) Nicht mehr lieferbar

Patrice Bollon: Cioran, der Ketzer. Aus dem Französischen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006

Silvana Lindner: Mystik des Nihilismus? Auseinandersetzung mit Emil Ciorans Werk aus systematisch-theologischer Perspektive orthodoxer Prägung. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2006

Franz Winter: Emil Cioran und die Religionen. Eine interkulturelle Perspektive. Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2007

Bernd Mattheus: Cioran. Portrait eines radikalen Skeptikers. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2007

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Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: GFT 110407 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 02:41 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

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