Gedanken für den Tag

von Michael Bünker. "Vom Tod zum Leben"

Michael Bünker ist Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Österreich.

Im hebräischen Frühlingsmonat Nissan, wenn die in der Winterkälte erstarrte Natur zu neuem Leben erwacht, feiern Jüdinnen und Juden das Fest Pessach in Erinnerung an die Befreiung aus der Sklaverei des ägyptischen Pharaos. Nach jüdischer Überlieferung führte Gott die Israeliten in der Nacht vom 14. zum 15. Nissan - heuer der 18. und 19. April - vom Tod zum Leben, von der Sklaverei in die Freiheit. Der Glaube an einen Übergang vom Tod zum Leben nach christlichem Verständnis steht nahezu zeitgleich im Zentrum des christlichen Osterfestes. Christinnen und Christen gedenken in der Karwoche des Leidens und Sterbens des Jesus von Nazareth am Kreuz und feiern in der Osternacht die Überwindung der Macht des Todes.

In den "Gedanken für den Tag" der Pessach- und Karwoche sprechen der Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Österreichs, Paul Chaim Eisenberg, der Erzbischof von Wien, Kardinal Christoph Schönborn - und der Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Österreich, Michael Bünker.

Karfreitag - ein evangelischer Feiertag. Viele Evangelische gehen heute zum Gottesdienst in ihre Kirchen. Sie hören die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu, sie singen so bekannte. Choräle, wie etwa "O Haupt voll Blut und Wunden" und feiern miteinander das Abendmahl. Die Kirchen sind normalerweise ohne Schmuck, ohne Kerzen, es dominiert die Farbe Schwarz.
Ein verstörender Tag. Er durch-kreuzt im wahrsten Sinn des Wortes die geläufigen Vorstellungen von Religion, Gott und Glaube. Denn der Karfreitag stellt ungeschönt - ich kann auch sagen: Schonungslos - das Leiden und die Opfer von Gewalt vor Augen. Das soll - so hat es Martin Luther gemeint.- in großer Ehrlichkeit geschehen, vor allem um sichtbar zu machen, wo Menschen heute gleichsam festgenagelt sind in den Strukturen von tödlicher Gewalt. Wer sich dem Karfreitag stellt, kann nicht mehr sagen: Davon habe ich doch nichts gewusst! Oder: Mit mir hat das bestimmt nichts zu tun. Wenn Kinder verhungern, wenn Flüchtlinge ertrinken oder in einem Stacheldrahtverhau umkommen, wenn Menschen verelendet und erniedrigt werden, zu Opfern von Tyrannei oder militärischer Gewalt oder einer unbeherrschbaren und damit unverantwortbaren Technologie. Nein, die Gemeinschaft der Christen und Christinnen stimmt nicht ein in das Lied der moralischen Anständigkeit und der politischen Unzuständigkeit und Nichtzuständigkeit. Na ja, sie sollte wenigstens nicht einstimmen, denn sie singt ja: Ich, ich hab es verschuldet, was du getragen hast. Das Kreuz zwingt dazu, Verantwortung zu übernehmen. Aber eben nicht, um sich mit den untragbaren Zuständen der Unmenschlichkeit abzufinden, nicht, dass sie womöglich verklärt werden, nicht, dass sie verewigt und bestätigt werden, sondern damit sie überwunden werden können.
Vielleicht ist das das eigentlich Verstörende am Karfreitag. Dass er es zumindest den Christen und Christinnen zumutet, sich niemals mit der Gewalt abzufinden, sondern dass sie mutig und realistisch dafür eintreten, dass das Kreuz des Jesus von Nazareth endlich das letzte Kreuz ist, das ein Mensch zu tragen hatte.

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Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: GFT 110422 Gedanken für den Tag / Michael Bünker
Länge: 02:41 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

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