Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Das Zeugnis der Poesie" - zum 100. Geburtstag des polnischen Literaturnobelpreisträgers Czeslaw Milosz

Cornelius Hell ist Literaturkritiker.

Poet in Vilnius und Aktivist im Warschauer Untergrund, Diplomat des kommunistischen Polen und Dissident, der die Rolle der Intellektuellen in der Diktatur analysierte, amerikanischer Literaturprofessor und polnischer Romanautor im Exil - das alles war Czeslaw Milosz in seinem langen Leben, bevor er 1980 den Literaturnobelpreis erhielt. Und er war deklarierter Katholik, aber ein sehr skeptischer und eigenwilliger, der an seinen Widersprüchen und der Widersprüchlichkeit der Welt festhielt: "Es geht über meine Kräfte, die Welt als normal zu betrachten."
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

"Ich habe viele Bücher gelesen, aber ich glaub ihnen nicht.
Sobald es schmerzt, kehren wir zu irgendwelchen Flüssen zurück,
ich erinnere mich an die dortigen Kreuze mit Zeichen von Sonne und Mond
und an die Zauberer, wie sie gearbeitet haben während der Typhusepidemie."

Diese Zeilen fand ich in einem Gedicht des polnischen Literaturnobelpreisträgers Czeslaw Milosz, und sie haben gleich eine Erfahrung von mir selbst angesprochen. Milosz kommt zweifellos aus einer archaischeren Gegend als ich: Er wurde 1911 in der litauischen Provinz geboren, und da die Litauer die letzten Heiden Europas waren, haben sich viele heidnische Rituale und Gebräuche bis ins 20. Jahrhundert erhalten. Aber vor allem sind die Flüsse und Flusslandschaften Litauens einzig und unverwechselbar; Milosz hat sie in seinem Roman "Das Tal der Issa" sehr poetisch beschrieben.

Meine Kindheit hat sich an anderen Bächen und Flüssen abgespielt - in einem kleinen Dorf des Landes Salzburg in den 1960er Jahren. Vor kurzem habe ich diese Kindheitsflüsse wieder rauschen gehört und bin über die Brücken von damals gegangen. Auch den Sternenhimmel über dem Feld, vor dem einmal unser Haus gestanden ist, habe ich wieder gesehen. Und jetzt weiß ich, dass sich diese Landschaft tiefer in mich eingegraben hat als alle Bücher. Und wie es Milosz mit den Relikten des Heidentums ergangen ist, so erinnere ich mich an den magischen Katholizismus meiner Kindheit. Das Leben war voller Prozessionen, Weihen und Segnungen, flackerndes Kerzenlicht und Weihrauchduft prägten die Feste und im Mittelpunkt standen die lateinischen Wandlungsworte wie ein großer Zauberspruch.

Manchmal ist es für den Intellektuellen, der ich gerne sein möchte, demütigend, dass diese Ablagerungen in den Seelentiefen eine größere Rolle spielen als die vielen gelesenen Bücher. Ich würde nicht, wie Milosz, sagen, ich glaub ihnen nicht, sondern eher, dass auch die Liebe zu bestimmten Büchern abhängt von diesen Erfahrungen. Aber in einem bin ich mir sicher wie Milosz: "Sobald es schmerzt, kehren wir zu irgendwelchen Flüssen zurück."

Service

Bücher von Czeslaw Milosz
Erhältlich:
Die Straßen von Wilna. Aus dem Polnischen vom Roswitha Matwin-Buschmann. Carl Hanser Verlag, München-Wien 2005
Visionen an der Bucht von San Francisco. Amerikanische Essays. Aus dem Polnischen vom Sven Sellmer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008

Vergriffen:
Gedichte. Aus dem Polnischen übertragen von Karl Dedecius und Jeannine ?uczak-Wild und mit einem Nachwort von Aleksander Fiut. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1992 (=Bibliothek Suhrkamp 1090)
Zeichen im Dunkel. Poesie und Poetik. Hrsg. von Karl Dedecius. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980 (=edition suhrkamp 995)
Verführtes Denken. Mit einem Vorwort von Karl Jaspers. Deutsch von Alfred Loepfe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980 (=suhrkamp taschenbuch 278)
Das Zeugnis der Poesie. Aus dem Polnischen von Peter Lachmann. Carl Hanser Verlag, München-Wien 1984
Hünchen am Wegesrand. Aus dem Polnischen und Englischen von Doreen Daume. Carl Hanser Verlag, München-Wien 2000
Mein ABC. Von Adam und Eve bis Zentrum und Peripherie. Aus dem Polnischen von Doreen Daume. Carl Hanser Verlag, München-Wien 2011-06-17
Tal der Issa. Roman. Deutsch von Maryla Reifenberg. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1980 (= dtv 10077)
West und Östliches Gelände. Deutsch von Maryla Reifenberg. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1986 (= dtv 10583)


Wenn Sie diese Sendereihe kostenfrei als Podcast abonnieren möchten, kopieren Sie diesen Link (XML) in Ihren Podcatcher. Für iTunes verwenden Sie bitte diesen Link (iTunes).

Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: GFT 110627 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

weiteren Inhalt einblenden