Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Das Zeugnis der Poesie" - zum 100. Geburtstag des polnischen Literaturnobelpreisträgers Czeslaw Milosz

Cornelius Hell ist Literaturkritiker.

Poet in Vilnius und Aktivist im Warschauer Untergrund, Diplomat des kommunistischen Polen und Dissident, der die Rolle der Intellektuellen in der Diktatur analysierte, amerikanischer Literaturprofessor und polnischer Romanautor im Exil - das alles war Czeslaw Milosz in seinem langen Leben, bevor er 1980 den Literaturnobelpreis erhielt. Und er war deklarierter Katholik, aber ein sehr skeptischer und eigenwilliger, der an seinen Widersprüchen und der Widersprüchlichkeit der Welt festhielt: "Es geht über meine Kräfte, die Welt als normal zu betrachten."
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

"Gewiss haben wir viel miteinander gemeinsam
Wir alle, die wir in Barockstädten aufgewachsen sind"

Den Anfang dieses Gedichts von Czeslaw Milosz kannte ich noch nicht, als ich vor 27 Jahren zum ersten Mal in die litauische Hauptstadt Vilnius kam, der diese Verse gelten. Aber ich machte, aus Salzburg kommend, eine ähnliche Erfahrung. Milosz hat der Stadt seiner Jugend viele Gedichte und ein ganzes Buch gewidmet. Seine Texte gehören zum Schönsten, was man über diese noch immer zu wenig bekannte Stadt auf Deutsch lesen kann. Milosz hat in der Zwischenkriegszeit, als die Stadt von Polen okkupiert war, an der berühmten Universität studiert, und 1931 ist er in Vilnius zum Dichter geworden, als der er sich Zeit seines Lebens vor allem verstand. Nach einer abenteuerlichen Europareise, die er im Buch "West und östliches Gelände" beschreibt, arbeitete er von 1936 bis 1939 in Vilnius beim polnischen Rundfunk, bis er vor der sowjetischen Okkupation nach Warschau floh.

"Niemals konnte ich dich, Stadt, verlassen" - so beginnt ein anderes Gedicht von Czeslaw Milosz, und wer mich kennt, weiß, dass mir auch das aus der Seele gesprochen ist. Für Milosz lag das Vilnius seiner Jugend nach dem Zweiten Weltkrieg im Ausland, und aus dem französischen und später amerikanischen Exil war es bis zum Zerfall der Sowjetunion völlig unerreichbar. Erst in hohem Alter konnte er die Stadt wiedersehen. Ich musste Vilnius 1986 nach zwei Jahren verlassen, weil meine Arbeit an der Universität beendet war. Ich wusste es damals noch nicht, aber ich konnte bald wiederkommen und kann heute sagen, dass ich die Stadt nie verlassen habe. Nicht zuletzt deswegen, weil ich wichtige Erkenntnisse über mich selbst und über das, was den Menschen ausmacht, hier gewonnen habe. Auch für mich gilt, was Milosz in seinem Buch "Zeugnis der Poesie" schreibt: "Die condicio humana erkennen wir voller Mitleid und Entsetzen nicht allgemein, sondern stets bezogen auf einen Ort und einen Zeitpunkt, in dieser und keiner anderen Provinz, in diesem und nur diesem Land."

Service

Bücher von Czeslaw Milosz
Erhältlich:
Die Straßen von Wilna. Aus dem Polnischen vom Roswitha Matwin-Buschmann. Carl Hanser Verlag, München-Wien 2005
Visionen an der Bucht von San Francisco. Amerikanische Essays. Aus dem Polnischen vom Sven Sellmer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008

Vergriffen:
Gedichte. Aus dem Polnischen übertragen von Karl Dedecius und Jeannine ?uczak-Wild und mit einem Nachwort von Aleksander Fiut. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1992 (=Bibliothek Suhrkamp 1090)
Zeichen im Dunkel. Poesie und Poetik. Hrsg. von Karl Dedecius. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980 (=edition suhrkamp 995)
Verführtes Denken. Mit einem Vorwort von Karl Jaspers. Deutsch von Alfred Loepfe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980 (=suhrkamp taschenbuch 278)
Das Zeugnis der Poesie. Aus dem Polnischen von Peter Lachmann. Carl Hanser Verlag, München-Wien 1984
Hünchen am Wegesrand. Aus dem Polnischen und Englischen von Doreen Daume. Carl Hanser Verlag, München-Wien 2000
Mein ABC. Von Adam und Eve bis Zentrum und Peripherie. Aus dem Polnischen von Doreen Daume. Carl Hanser Verlag, München-Wien 2011-06-17
Tal der Issa. Roman. Deutsch von Maryla Reifenberg. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1980 (= dtv 10077)
West und Östliches Gelände. Deutsch von Maryla Reifenberg. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1986 (= dtv 10583)

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Playlist

Titel: GFT 110628 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

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