Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Das Zeugnis der Poesie" - zum 100. Geburtstag des polnischen Literaturnobelpreisträgers Czeslaw Milosz

Cornelius Hell ist Literaturkritiker.

Poet in Vilnius und Aktivist im Warschauer Untergrund, Diplomat des kommunistischen Polen und Dissident, der die Rolle der Intellektuellen in der Diktatur analysierte, amerikanischer Literaturprofessor und polnischer Romanautor im Exil - das alles war Czeslaw Milosz in seinem langen Leben, bevor er 1980 den Literaturnobelpreis erhielt. Und er war deklarierter Katholik, aber ein sehr skeptischer und eigenwilliger, der an seinen Widersprüchen und der Widersprüchlichkeit der Welt festhielt: "Es geht über meine Kräfte, die Welt als normal zu betrachten."
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Heute vor 100 Jahren, am 30. Juni 1911, wurde der polnische Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz geboren - in dem kleinen Dorf Seteniai in Litauen, das damals zum russischen Kaiserreich gehörte. Als Milosz als alter Mann zu einem Vortrag nach Wien kam, konnte ich einmal mit dem Mann sprechen, der meine Stadt Vilnius noch aus der Zwischenkriegszeit kannte. Ich fragte ihn, wie lange er denn von seinem Geburtsort nach Vilnius unterwegs war. "Damals mit dem Pferd waren es zwei Tage; mit dem Auto braucht man heute zwei Stunden", meinte er.

Vilnius und Warschau waren wichtige Stationen seines Lebens. Milosz war nie Kommunist, dennoch konnte er 1945 - 51 als Beamter des Außenministeriums der Volksrepublik Polen in New York, Washington und Paris arbeiten. Als die ideologische Gleichschaltung immer engmaschiger wurde, quittierte er 1951 den Dienst. Ab 1960 war er Professor für slawische Literatur an der Universität Berkeley. 30 Jahre sollte Milosz seine Heimat nicht wiedersehen.

Ein Journalist klingelte Czeslaw Milosz im Oktober 1980 telefonisch aus dem Schlaf, um ihm mitzuteilen, dass ihm der Literaturnobelpreis zugesprochen wurde. Darauf folgte die typisch amerikanische Frage. "Wie fühlen Sie sich?" "Nachdenklich", meinte Milosz. Für den Journalisten war diese Antwort unbrauchbar, er veröffentlichte sie nicht.

Der Literaturnobelpreis machte es möglich, dass Milosz 1981 Polen besuchen konnte. Schon am Flughafen kam es zu Massenszenen, und seine Lesung dauerte vier Stunden. Doch bald darauf wurde in Polen das Kriegsrecht verhängt, und die Werke von Milosz waren bis 1989 wieder verboten. Danach hat der Autor Krakau zu seinem zweiten Lebensmittelpunkt gemacht. Dort ist er am 14. August 2004 auch gestorben.
 
Zu seinem 100. Geburtstag haben Polen und Litauen gemeinsam ein Milosz-Jahr ausgerufen. Milosz, der im vornationalen litauisch-polnischen Großfürstentum verwurzelt war, ist auch Bindeglied zweier Staaten geworden, die im 20. Jahrhundert schwere Konflikte miteinander hatten.

Service

Bücher von Czeslaw Milosz
Erhältlich:
Die Straßen von Wilna. Aus dem Polnischen vom Roswitha Matwin-Buschmann. Carl Hanser Verlag, München-Wien 2005
Visionen an der Bucht von San Francisco. Amerikanische Essays. Aus dem Polnischen vom Sven Sellmer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008

Vergriffen:
Gedichte. Aus dem Polnischen übertragen von Karl Dedecius und Jeannine ?uczak-Wild und mit einem Nachwort von Aleksander Fiut. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1992 (=Bibliothek Suhrkamp 1090)
Zeichen im Dunkel. Poesie und Poetik. Hrsg. von Karl Dedecius. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980 (=edition suhrkamp 995)
Verführtes Denken. Mit einem Vorwort von Karl Jaspers. Deutsch von Alfred Loepfe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980 (=suhrkamp taschenbuch 278)
Das Zeugnis der Poesie. Aus dem Polnischen von Peter Lachmann. Carl Hanser Verlag, München-Wien 1984
Hünchen am Wegesrand. Aus dem Polnischen und Englischen von Doreen Daume. Carl Hanser Verlag, München-Wien 2000
Mein ABC. Von Adam und Eve bis Zentrum und Peripherie. Aus dem Polnischen von Doreen Daume. Carl Hanser Verlag, München-Wien 2011-06-17
Tal der Issa. Roman. Deutsch von Maryla Reifenberg. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1980 (= dtv 10077)
West und Östliches Gelände. Deutsch von Maryla Reifenberg. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1986 (= dtv 10583)

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Playlist

Titel: GFT 110630 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:50 min

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