Gedanken für den Tag
von Anna Mitgutsch. "Fremd seid ihr gewesen"
23. August 2011, 06:56
Anna Mitgutsch, österreichische Schriftstellerin und Mitglied der jüdischen Kultusgemeinde in Linz, entfaltet in den "Gedanken für den Tag" das biblische Bild von Gott, der mit seinem Volk in die Fremde zieht und so selbst zum Fremden wird.
"Gehe aus deinem Land und aus deinem Geburtsort und aus dem Haus eines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde", sagt Gott im biblischen Buch Genesis zu Abraham. Eine Emigration aus religiösen Gründen, ein Weg ins Ungewisse, wie ihn alle Emigranten zu allen Zeiten vor sich hatten. Gerade aus dieser eigenen Erfahrung des Fremdseins rühren auch viele der biblischen Handlungsanleitungen für den Umgang mit Fremden. In der Erzählung von Ruth wird die Fremde, die Moabiterin, zur Stammmutter des Davidischen Königsgeschlechts, aus dem der Messias hervorgehen soll.
Solche scheinbaren Unvereinbarkeiten auszuhalten sind für Anna Mitgutsch eine Vorbedingung dafür, Anderssein nicht nur zu tolerieren, sondern als Gewinn und als Horizonterweiterung zu sehen.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.
Mit dem Gebot "Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst, denn Fremde wart ihr in Ägypten", wird in den Fünf Büchern Moses immer wieder der soziale Umgang mit Fremden eingemahnt.
War Gott dem biblischen Stammvater Abraham noch ein naher Vertrauter, so wird er zwei Generationen später von seinem Enkel Jaakov als der Schrecken Yitzchaks bezeichnet. Jaakov ringt mit einem Fremden, dessen Segen er erbittet, und obwohl er sich nicht zu erkennen gibt, weiß Jaakov: Ich habe Gott gesehen, von Angesicht zu Angesicht. In zeitgenössischen Begriffen ausgedrückt könnte man sagen: Er wird vom Schrecken des Unfassbaren ergriffen und niedergerungen. So wird Gott bereits für die Patriarchen Generation um Generation fremder, unnahbarer. Moses erfährt die Gegenwart Gottes im brennenden Dornbusch mit Angst und Schrecken. Er ist eine Gegenwart außerhalb der Zeit, außerhalb des Denkbaren. In der überwältigenden Leere der Wüste während der vierzigjährigen Wanderung des hebräischen Volkes nimmt auch die Vorstellung Gottes eine nicht mehr greifbare, jede Vorstellung übersteigende, Dimension an. Die Wüste ist Abwesenheit und Leere, in ihr wird das Göttliche spürbarer als an anderen Orten und zugleich abstrakter, transzendenter. Indem Gott das unfassbar Andere bleibt, behält er seine Transzendenz, die selbst in der Begegnung Vereinnahmung verbietet.
Auch der Fremde ist eine Transzendenz, wenn auch von einer anderen Ordnung als der göttlichen. Wenn die Grenze zwischen uns und dem Fremden durchlässig wird, kann sie die Schwelle sein, an der Begegnung stattfindet. Es muss eine Begegnung sein, die Unterschiede anerkennt, sie aushält, ohne den anderen zu definieren und nach eigenen Maßstäben zu bewerten.
Service
Buch, Anna Mitgutsch, Erinnern und Erfinden, Grazer Vorlesungen, Droschl-Verlag
Buch, Anna Mitgutsch, Die Züchtigung, Claassen
Buch, Anna Mitgutsch, Das andere Gesicht, Claassen
Buch, Anna Mitgutsch, Ausgrenzung, Luchterhand
Buch, Anna Mitgutsch, In fremden Städten, Luchterhand
Buch, Anna Mitgutsch, Abschied von Jerusalem, Rowohlt Berlin
Buch, Anna Mitgutsch, Haus der Kindheit, Luchterhand
Buch, Anna Mitgutsch, Familienfest, Luchterhand
Buch, Anna Mitgutsch, Zwei Leben und ein Tag, Luchterhand
Buch, Anna Mitgutsch, Wenn du wiederkommst, Luchterhand
Wenn Sie diese Sendereihe kostenfrei als Podcast abonnieren möchten, kopieren Sie diesen Link (XML) in Ihren Podcatcher. Für iTunes verwenden Sie bitte diesen Link (iTunes).
Sendereihe
Playlist
Titel: GFT 110823 Gedanken für den Tag / Anna Mitgutsch
Länge: 03:49 min