Gedanken für den Tag

von Anna Mitgutsch. "Fremd seid ihr gewesen"

Anna Mitgutsch, österreichische Schriftstellerin und Mitglied der jüdischen Kultusgemeinde in Linz, entfaltet in den "Gedanken für den Tag" das biblische Bild von Gott, der mit seinem Volk in die Fremde zieht und so selbst zum Fremden wird.

"Gehe aus deinem Land und aus deinem Geburtsort und aus dem Haus eines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde", sagt Gott im biblischen Buch Genesis zu Abraham. Eine Emigration aus religiösen Gründen, ein Weg ins Ungewisse, wie ihn alle Emigranten zu allen Zeiten vor sich hatten. Gerade aus dieser eigenen Erfahrung des Fremdseins rühren auch viele der biblischen Handlungsanleitungen für den Umgang mit Fremden. In der Erzählung von Ruth wird die Fremde, die Moabiterin, zur Stammmutter des Davidischen Königsgeschlechts, aus dem der Messias hervorgehen soll.

Solche scheinbaren Unvereinbarkeiten auszuhalten sind für Anna Mitgutsch eine Vorbedingung dafür, Anderssein nicht nur zu tolerieren, sondern als Gewinn und als Horizonterweiterung zu sehen.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

In der Bibel ist Gott beides: Der persönliche Gott, der die hebräischen Sklaven aus der ägyptischen Knechtschaft herausgeführt und in der vierzigjährigen Wüstenwanderung zu einem Volk gemacht hat, und die Transzendenz, deren Anblick in Furcht und Schrecken versetzt. Und auch unser Denken ist von dieser unauflösbaren Spannung geprägt. Der Gottesbegriff, der den monotheistischen Religionen vertraut ist, in besonderem Maß dem Judentum und dem Islam, fordert absolutes Bilderverbot. So bleibt das Unfassbare als Schrecken und als Faszination bewahrt, und die Stelle des Unsagbaren, das sich der menschlichen Vorstellung und jedem Versuch rationaler Erklärung entzieht, bleibt leer und ermöglicht so das Fortdauern des Prinzips Hoffnung. Gott muss ein Fremder bleiben, damit die Utopie, im Judentum die Hoffnung auf den Messias, lebendig bleibt und die Nähe sich nicht in Geringschätzung und Verniedlichung verwandelt. Der Gott der Tora ist jedoch nicht nur eine unnahbare Transzendenz, sondern auch der Beschützer seines Volkes, der es, wie es wiederholt heißt, mit starker Hand und ausgestrecktem Arm aus Ägypten herausgeführt hat. Diese Formulierung ist in der Bibel oft mit einer Ermahnung für den Umgang mit Fremden verbunden: Gleiches Recht soll bei euch für den Fremden wie für den Einheimischen gelten ... und du sollst den Fremden lieben wie dich selbst, denn Fremde wart ihr in Ägypten. Der Fremde unter uns ist nicht von allem Anfang an Teil unserer Welt. Er stellt durch seine bloße Existenz die Gültigkeit unseres Weltbilds in Frage. Das galt für biblische Zeiten ebenso wie für unsere Zeit.

Service

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 110824 Gedanken für den Tag / Anna Mitgutsch
Länge: 03:47 min

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