Gedanken für den Tag
von Anna Mitgutsch. "Fremd seid ihr gewesen"
26. August 2011, 06:56
Anna Mitgutsch, österreichische Schriftstellerin und Mitglied der jüdischen Kultusgemeinde in Linz, entfaltet in den "Gedanken für den Tag" das biblische Bild von Gott, der mit seinem Volk in die Fremde zieht und so selbst zum Fremden wird.
"Gehe aus deinem Land und aus deinem Geburtsort und aus dem Haus eines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde", sagt Gott im biblischen Buch Genesis zu Abraham. Eine Emigration aus religiösen Gründen, ein Weg ins Ungewisse, wie ihn alle Emigranten zu allen Zeiten vor sich hatten. Gerade aus dieser eigenen Erfahrung des Fremdseins rühren auch viele der biblischen Handlungsanleitungen für den Umgang mit Fremden. In der Erzählung von Ruth wird die Fremde, die Moabiterin, zur Stammmutter des Davidischen Königsgeschlechts, aus dem der Messias hervorgehen soll.
Solche scheinbaren Unvereinbarkeiten auszuhalten sind für Anna Mitgutsch eine Vorbedingung dafür, Anderssein nicht nur zu tolerieren, sondern als Gewinn und als Horizonterweiterung zu sehen.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.
Die eigene Identität zu bewahren und zugleich die erwartete Assimilation zu leisten, ist ein Balanceakt, der Migranten zu allen Zeiten, in allen Kulturen abverlangt wurde. In der Tora wird der Fremde explizit in die Rechte und Verpflichtungen der Gesetze eingeschlossen. Eine Satzung ist für euch und für den Fremdling, der sich unter euch aufhält, heißt es wiederholte Male. Wer unter den Kindern Israels lebt und gleiche Rechte genießt, muss sich auch gleichen Pflichten beugen. Der Fremde, der kommt und bleibt und bemüht ist, sich zu integrieren, gehört zum Volk, ja er steht unter besonderem Schutz, ebenso wie die Witwen und Waisen. Er hat keine Familie, keine Sippe, keinen Rückhalt außer den zu seinem Schutz erlassenen Gesetzen. In der Bibel muss ein Fremder nicht einer sein, der von weit her kommt, er kann auch einer von jenseits der Stammesgrenze sein. Dem Asylsuchenden steht Aufnahme und Schutz zu, gerade weil es in der menschlichen Natur liegt, Argwohn gegen ihn zu hegen, von der Gleichzeitigkeit seiner Anwesenheit und seiner Unzugehörigkeit irritiert zu sein. Wie kann der Fremde Teil einer Welt werden, die bereits von anderen, wiederum ihm fremden Wertvorstellungen und Traditionen besetzt ist, ohne dabei die eigene Welt aufzugeben? Und wie bewahrt der Fremde seine Identität, wenn er sich in keinem Gegenüber spiegeln kann, das seine Eigenart bestätigt? Das jüdische Volk, das öfter und über längere Zeiträume hinweg fremd war in einem Land, das ihnen nicht gehört, wie es in Genesis heißt, hat auch die Lösung auf diese Frage angeboten und auf lange Strecken, soweit die Mehrheitskultur es zuließ, gelebt. Indem es das Eigene bewahrte und sich vom Neuen befruchten ließen, entstanden die großen Errungenschaften der Geistesgeschichte und der Künste.
Service
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Sendereihe
Playlist
Titel: GFT 110826 Gedanken für den Tag / Anna Mitgutsch
Länge: 03:49 min