Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Ende eines Sommers"

"Die Pfirsiche sind geerntet, die Pflaumen färben sich, / während unter dem Brückenbogen die Zeit rauscht" (Günter Eich).

Landschaften, Gerüche, Kindheitserinnerungen - die erste Ernte, die letzten Badetage und die Einsicht, dass der Sommer zur Neige geht. Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell macht sich sehr persönliche Gedanken über die zweite Hälfte des Sommers, des Jahres und des Lebens.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Im Juli glaube ich immer, ich bin noch mitten im Sommer, mitten im Jahr. Aber Ende August kann ich mich nicht mehr selbst austricksen - der Sommer geht zu Ende, wir sind tief im dritten Viertel des Jahres. In meiner Jugend in Salzburg habe ich immer gewusst: Wenn Mitte August das Wetter schlecht wird, ist die Badesaison zu Ende; auch wenn die Sonne hernach noch so intensiv scheint - die Badeseen werden nicht mehr warm. Und in der letzten Augustwoche - da geht der Sommer wirklich zu Ende. Und das ist ja auch keineswegs traurig - Herbstzeit ist doch Erntezeit.

Mit meiner Lebenszeit geht es mir genauso: Mit fünfzig habe ich das Gefühl genossen, in der Mitte des Lebens zu stehen. Schließlich wollte meine Mutter hundert Jahre alt werden und hat es fast geschafft - mit diesen Genen und dem medizinischen Fortschritt hätte ich doch gute Chancen, mit fünfzig erst bei der Hälfte angelangt zu sein. Aber jetzt, mit fünfundfünfzig? Da ist schon später August angesagt, denn auf hundertzehn werde ich es wohl kaum bringen.

Also am besten nicht zu weit vorausschauen, sondern mich über das Nahe freuen: Die Ernte. Das Gefühl genießen, dass ich unter einem Baum sitze, den ich selbst gepflanzt habe. Aber auch dieses Gefühl ist ambivalent, denn wenn die letzten Früchte geerntet sind, fällt bald auch das Laub ab und der Baum ist kahl. Unerbittlich lässt der Herbst die Zeit sichtbar werden.

In nahezu allen Herbst-Gedichten, die ich gelesen habe, rückt das Vergehen der Zeit ins Bild: In Georg Trakls "Vogelzügen" oder in der Münze unter der Zunge, die in Günter Eichs Gedicht "Ende eines Sommers" an Charon, den antiken Fährmann in "Die Totenwelt", erinnert. In der Schlussstrophe des Gedichtes "Herbstsonnenschein" von Johannes Schlaf allerdings drehen sich die Uhrzeiger fast unbemerkt:

So! - Meinen Kopf auf deinen Knien,
So ist mir gut;
Wenn mein Auge so in deinem ruht.
Wie leise die Minuten ziehn! ...

Im Herbst des Jahres wie des Lebens ist die Nähe eines anderen Menschen besonders viel wert. Der Herbst, die Zeit der Ernte, schärft den Blick für das, was zählt.

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Titel: GFT 110829 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

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