Gedanken für den Tag

von Konrad Holzer. "Entfremdung oder Annäherung" - Sehnsucht und Mystik in der Literatur

Der deutsche Dichter Martin Walser sprach anlässlich der Präsentation seines neuesten Romans "Muttersohn" darüber, dass Religion und Literatur in den Anfängen eins gewesen seien, sich dann entfremdet hätten, er mit seinem Roman aber hoffe, die beiden wenigstens ein paar Millimeter einander wieder näher zu bringen. Der Publizist Konrad Holzer, Literaturliebhaber und -Experte, geht der Frage nach, wie's die zeitgenössische Dichtung denn überhaupt so mit der Religion hält. Es fällt nämlich auf, dass sich - nach langer Enthaltsamkeit - Autorinnen und Autoren wieder mehr und mehr mit Religiösem auseinandersetzen und zwar auch solche, die sich selbst als areligiös bezeichnen.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Es gibt Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die selber nicht an Gott glauben, dennoch über Gott schreiben. Julian Barnes etwa beginnt sein Buch: "Nichts, was man fürchten müsste", eine essayistische Erzählung übers Sterben und den Tod, die viel Angst und Witz enthält, mit dem Satz: "Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn." Und der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago, dichtet: "Ein Gebet nur spreche ich, doch nicht zu Gott, ich weiß nicht, wo er ist, ob er mich kennt." Dennoch schrieb dieser Saramago vor zwanzig Jahren "Das Evangelium nach Jesus Christus", in dem er seine Version der Lebens- und Leidensgeschichte erzählt. Und eine Geschichte aus dem Alten Testament wurde nun zu seinem letzten Buch. In "Kain" mischte er die für sein Alterswerk typische liebevoll-sanfte Ironie mit all dem Zorn, zu dem er immer noch fähig war. Für letzteren ist der Brudermörder ein geeignetes Sprachrohr. In seiner Heimat Portugal war dieses Buch ein Skandal. Er lässt Kain mit Gott rechten und dafür Ausdrücke verwenden, die haarsträubend blasphemisch erscheinen mögen. Vielleicht stößt sich mancher Leser, manche Leserin im ersten Augenblick daran, wenn Kain zu Gott sagt, ich habe Abel getötet, weil ich Dich nicht töten konnte, aber dann, beim noch einmal Darüberlesen, merkt man, dass das ja auch System hat: Kain sagt irgendwann einmal: Besser verrückt, als ängstlich. Und es ist ja so, dass Saramago auch viel Ironie in das Buch mischt, wenn es zum Beispiel um die literarische Qualität der alttestamentlichen Flüche und Verwünschungen geht oder darum, Engeln bei der Arbeit zuzusehen. Dennoch resumiert Saramago: "Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihrer Uneinigkeiten mit Gott, weder versteht er uns, noch verstehen wir ihn."

Service

Buch, Wolfgang Frühwald, Das Gedächtnis der Frömmigkeit, Verlag der Weltreligionen
Buch, Dieter Wellershoff, Der Himmel ist kein Ort, Kiepenheuer & Witsch
Buch, Hanna Orstavik, Die Pastorin, DVA
Buch, Meir Shalev, Aller Anfang, Diogenes
Buch, John Updike, Sucht mein Angesicht, rororo
Buch, John Updike, Die Tränen meines Vaters, Rowohlt
Buch, Julian Barnes, Nichts, was man fürchten müsste, Kiepenheuer & Witsch
Buch, José Saramago, Kain, Hoffmann und Campe
Buch, Martin Walse, Muttersohn, Rowohlt

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 110930 Gedanken für den Tag / Konrad Holzer
Länge: 03:47 min

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