Gedanken für den Tag

von Paulus Hochgatterer. "Und irgendwann zünd' ich den Kranz an" - Advent mit Kevin

Gewissermaßen auf Kommando kneifen wir alljährlich im Dezember die Augen zu und nehmen Anlauf in Richtung Idylle. Manchen Menschen gelingt das weniger; für sie ist der Advent eine Zeit der Müdigkeit und der Verwunderung angesichts der kollektiven Halluzinose, die rings um sie stattfindet. Das gilt vor allem für jene Fraktion von Kindern, die idyllefrei aufwächst und Feuerzeuge nicht in erster Linie zum Entflammen von Kerzen verwendet.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Advent mit Kevin. Mittwoch

Das Haustor auf, raus auf die Straße, keiner von links, keiner von rechts, es riecht nach Mittwoch, und das ist schlecht. Kevin zieht die Schultern nach hinten und knackt mit dem Daumenknöchel. Dann holt er das Feuerzeug und den Zettel aus der Jacke. Er knipst erst das Feuerzeug an, dann faltet er den Zettel auseinander. Ich mache eine Flamme und ich kenne vier Blumengeschäfte, denkt er, ich habe die Welt im Griff.

Kevin ist zwölf und hat die Welt im Griff. Der Kater war diesmal auch schon wach. Ein guter Vasall erwacht mit dem Herrn. Wie heißt das Projekt?, fragt Kevin, der Kater nickt und Kevin sagt: Genau, - Adventkranz. Er schreibt und ist froh, dass die Mutter bei der Telefonbuchanlieferung vor zwei Wochen geschlafen hat und er zu dem Typen, der irgendwie ausgesehen hat wie ein Terrorist, gesagt hat: Na gut, ich nehme es. Branchenverzeichnis, Blumenhandlungen, mein Bezirk. Der Transformer-Wecker beginnt zu lärmen. Hau doch du ihm einmal auf den Kopf, sagt Kevin zum Kater.

Wo warst du?, fragt Gollum, sein Klassenvorstand, als Kevin zehn Minuten zu spät in den Unterricht kommt. Kevin sagt: Bei vier Blumengeschäften, und Gollum kapiert gar nichts.

Sie schreiben eine Nacherzählung der Lawinengeschichte, die sie am Vortag gelesen haben. Kevin schreibt, das Unglück sei im Advent passiert; er weiß, dass Gollum sagen wird: Unser Kevin hat halt Fantasie, und dass er sich dann denken wird: Ja, manche Leute haben Sachen und manche haben Fantasie.

In der Pause packt Kevin seine Tasche und haut ab. In der ersten Blumenhandlung sind die Adventkränze seit eineinhalb Wochen aus; in der zweiten hat es nie welche gegeben; in der dritten wirkt die Verkäuferin wie eine verkleidete Polizistin. In der vierten haben sie zwar auch keine Adventkränze, dafür aber sechs kurze, lilafarbene Kerzen als Dekoration. Sie stehen auf einem Mauersims und brennen alle. Dort hinten fällt eine Vase um, sagt Kevin; die Blumenverkäuferin kann gar nicht anders als sich umzudrehen; Kevin schnappt sich eine Kerze und rennt. Er läuft im Zickzack durch die Stadt und versteckt sich am Ende am Donaukanal, neben einem Lokal, in dem angeblich die Drogendealer aus und ein gehen. Er wartet, bis er wieder ruhig atmen kann. Dann blickt er an sich runter. Ich bin ein Risikofaktor im Advent mit einem Wachsfleck vorne drauf, denkt er.

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Playlist

Titel: GFT 111214 Gedanken für den Tag / Paulus Hochgatterer
Länge: 03:49 min

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